BERLIN. „Wir brauchen eine Geschichte!“ Ein Satz, der so oder ähnlich öfter fiel im Umfeld von Kanzlerkandidat Martin Schulz während der wenig inspiriert geführten...
. BERLIN. „Wir brauchen eine Geschichte!“ Ein Satz, der so oder ähnlich öfter fiel im Umfeld von Kanzlerkandidat Martin Schulz während der wenig inspiriert geführten Kampagne 2017. Man fand keine Geschichte, lieferte stattdessen selbst eine – und was für eine: Der steile Aufstieg und tiefe Fall des Martin Schulz, eine Tragödie, wie sie auf der Berliner Politikbühne noch nicht gegeben wurde. Der anfängliche Hype, die Ernüchterung nach drei verlorenen Landtagswahlen, der verzweifelte Versuch, das Ruder doch noch herumzureißen, die krachende Niederlage am 24. September: Aufgeschrieben hat Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen die „Schulz-Story“ schon in der Woche nach der Bundestagswahl. Eine meisterliche Politikreportage, über die damals die ganze Republik redete. Die nur entstehen konnte, weil Schulz den Journalisten ungewöhnlich nah an sich heranließ und das über Monate hinweg, noch dazu in einer heißen Phase. Eine Steilvorlage für einen Reporter – die man aber auch erstmal verwandeln muss. Zu Recht bekam Feldenkirchen dafür den Deutschen Reporterpreis.
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Nun ist auch das Buch dazu fertig und es ist viel mehr geworden als so etwas wie ein „Director’s Cut“. Die 315 Seiten liefern das nach, was der fast rein szenischen Schilderung noch fehlen musste: Einordnung, Reflexion, Analyse. Und natürlich das Schlusskapitel, den schmählichen Abgang des Protagonisten, seinen noch tieferen Absturz. „Er ist als Politiker erledigt, als Mensch desillusioniert“ – dieser Satz steht gleich am Anfang des Buches.
Der Kandidat fügte sich seiner „Steinmeierisierung“
Auch den Schlusspunkt des Dramas erlebte Feldenkirchen aus der Nahdistanz, nach der historischen Wahlniederlage hielt Schulz weiter engen Kontakt zu dem Reporter. Der Journalist sollte seinen „menschlichen Weg an die Macht“ protokollieren, den Versuch, als Politiker ehrlich, authentisch, trotzdem erfolgreich zu sein, das war ursprünglich die Idee. Trotz seines Scheiterns – an den Realitäten des Politikbetriebes ebenso wie an den eigenen Ansprüchen – blieb Schulz diesem Grundgedanken treu, ließ Feldenkirchen auch teilhaben an der finalen Erkenntnis, „dass der reine, aufrichtige Weg zwar in die Herzen vieler Menschen führt, aber keineswegs an die Macht.“
Wie viel Schwäche, wie viel Zweifel, wie viel Sensibilität, wie viel Transparenz darf sich ein Politiker heute leisten? Sind es nicht vor allem Kaltschnäuzigkeit und Selbstinszenierung, die letztendlich zum Erfolg an der Wahlurne verhelfen? Feldenkirchens Buch hat das Zeug, eine Debatte zu eröffnen – über das Selbstverständnis von Politikern ebenso wie das von Journalisten und Wählern.
Als Schulz für die SPD antrat, wollte er sich nicht verbiegen lassen – tat es dann aber doch. „Der Prozess der inhaltlichen Steinmeierisierung des Kandidaten“, so drückt es Feldenkirchen aus, verwischte den Eindruck, Schulz könne eine echte linke Alternative zu Angela Merkel sein. Die Berater glätteten seine Manuskripte, schärften ihm ständig ein, den politischen Gegner nur ja nicht zu heftig zu attackieren. Eine „fast schon panische Angst vor Zuspitzung und der fehlende Mut zum Risiko“, diese Konstanten hätten sich fatal auf die SPD-Kampagne ausgewirkt. Schulz selbst spürte das, kämpfte aber nicht energisch genug gegen die „Kaputtberatung“ an und erkannte zu spät die Kardinalfehler der Wahlkampfstrategen: Nicht als erfahrenen europäischen Staatsmann, wie es sich anbot, schickten sie ihn ins Rennen, sondern als Bürgermeister a. D. von Würselen – und ließen ihn dabei auch noch aussehen wie einen Bürokraten anstatt ihm zu erlauben, seine Stärken im zwischenmenschlichen Kontakt auszuspielen.
Tiefere Ursache für die Fehlsteuerung des Kandidaten Schulz, da ist sich Feldenkirchen sicher, sei eine fast schon manische Fixierung auf Umfragen und Medienberichte. Auf ihn wirkten Schulz und sein Team „wie Getriebene“, die sich ihren Kurs von Demoskopen und Journalisten diktieren ließen.“ Genau dieses Verhaltensmuster hatte schon „Welt“-Reporter Robin Alexander bei Angela Merkel und anderen Spitzenpolitikern während der Flüchtlingskrise beobachtet und in seinem Bestseller „Die Getriebenen“ geschildert.
Feldenkirchen geht jetzt noch einen Schritt weiter, indem er der eigenen Zunft die gleiche Fixierung auf Umfragen sowie eine damit einhergehende „Infantilisierung der Politikbetrachtung“ vorwirft: Die meisten Journalisten begnügten sich damit, nur noch die Performance von Politkern zu kommentieren anstatt mit eigenen Gedanken den politischen Diskurs zu befeuern.
Dass er mit dieser Diagnose nicht ganz falsch liegt, zeigte sich schon an den Reaktionen auf seine Reportage, als erst die „Bild“, dann auch andere Medien die 17 Seiten auf die Nachricht reduzierten, Schulz sei offenbar ein Weichei und der falsche Kandidat gewesen. Wie wohl die Resonanz diesmal ausfallen wird?