Es ist eine stete Suche. Die Suche nach dem Sinn des Stoffs. Die Suche nach den Worten, die zuviel sind. Die Suche danach, wie die Spannung einen Abend lang aufrechterhalten...
WORMS. Es ist eine stete Suche. Die Suche nach dem Sinn des Stoffs. Die Suche nach den Worten, die zuviel sind. Die Suche danach, wie die Spannung einen Abend lang aufrechterhalten werden kann, wenn die Zuschauer auf der Tribüne viele Reihen entfernt vom Geschehen sitzen.
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Seit dem vergangenen Donnerstag läuft diese Suche bei den Nibelungen-Festspielen auf Hochtouren. An diesem Tag, also acht Tage vor der Premiere am 20. Juli, hat das Ensemble das Stück „Siegfrieds Erben“ zum ersten Mal von der ersten bis zur letzten Szene durchgespielt. Ist die Zeit nicht zu knapp? „Im Theater ist eine Woche wie ein halbes Leben“, sagt Thomas Laue. Noch so viele Wendungen sind in dieser Woche möglich; noch so viele Wege, die beschritten und wieder verlassen werden können. Laue ist der Dramaturg und Künstlerische Leiter der Festspiele. Und er führt zusammen mit Regisseur Roger Vontobel die Gruppe der Suchenden an, die sich vor dem Nordportal des Doms zur Probenarbeit versammelt hat. Anfang Juni war die erste Leseprobe im „Wormser“, Anfang Juli die erste Probe vor dem Dom.
Nun sitzt Vontobel auf einem dieser schwarzen Plastik-Stühle auf der Tribüne, auf dem demnächst die Zuschauer Platz nehmen werden. Der Regisseur, der in Deutschland schon an großen Häusern wie dem Staatsschauspiel Dresden oder dem Schauspielhaus Bochum inszeniert hat, trägt ein hellblaues Shirt und eine kurze Hose. Bei den Festspielen führt er zum ersten Mal Regie. Das rechte Bein hat er über das linke geschlagen, die rechte Hand hält er vors Kinn. In dieser Haltung verharrt er einige Minuten lang zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Er ist fokussiert auf die Musik, auf die Worte, auf die Bewegungen der Schauspieler. Beim Besuch der WZ arbeitet das Ensemble gerade an einer Szene am Burgunderhof. Etzel, der von Jürgen Prochnow gespielt wird, ist in Worms angekommen. Vom Glanz vergangener Tage ist dort aber schon lange nichts mehr übrig. Stattdessen trieft auf der Bühne alles vor Armut. Es herrscht Trostlosigkeit. Alles sieht nach einem Leben ohne Perspektive aus. Und dann das: Auf der Bühne wird Polonaise getanzt. Die Musiker spielen beschwingte Töne. Vontobel wippt auf seinem Stuhl mit. Ziemlich vergnügt und entspannt sieht der Regisseur aus, wie er so dasitzt. Aber so bleibt die Stimmungslage nicht während dieser Stunde, in der nicht nur die WZ, sondern auch der Freundes- und Förderkreis der Nibelungen-Festspiele dem Regisseur bei der Arbeit zuschaut. Vontobel beantwortet zwischendurch eine Frage eines Schauspielers („Können wir das runterwerfen?“). Aber er unterbricht nicht während der Probe. Er greift immer mal wieder zum Mikrofon, das neben ihm liegt. Als ob er etwas sagen wollte. Er hält das Mikrofon dann kurz in der Hand, legt es wieder ab. Er steht auf, geht ein paar Schritte zum dänischen Bühnenbildner Palle Steen Christensen, unterhält sich mit ihm und setzt sich dann wieder auf seinen Stuhl.
Es gibt aber auch diesen einen Moment, in dem der Schweizer dem Stuhl, der neben ihm steht, einen leichten Tritt verpasst. Vontobel gestikuliert heftig. Er fasst sich an den Kopf. Er schaut Thomas Laue an, vor dem ein Notebook steht. Vontobel diskutiert mit dem Dramaturgen regelmäßig, an welcher Stelle der Inszenierung verdichtet oder reduziert werden kann; welcher Satz herausfliegen kann, weil er vielleicht zu banal ist, zu sehr nach einem Ritterspiel aus vergangenen Tagen klingt. Dann schaut Vontobel hinüber zu den Musikern, zur Technik, zu seiner Regieassistentin. Das Zusammenspiel zwischen Musik und Schauspiel, so wie er es sich wünscht, hat gerade nicht optimal geklappt. Wenn sich ein Regisseur an den Kopf fasst, heißt das nicht, dass just in diesem Moment etwas vollkommen schiefgelaufen ist; dass etwas total verbockt wurde. Es kann auch einfach nur eine Nuance sein, die in Vontobels Augen die Spannung gefährdet, die die Zuschauer von der ersten bis in die letzte Reihe spüren müssen. Die Spannung, die eine erfolgreiche Inszenierung unter freiem Himmel vor einer so mächtigen Kulisse wie dem Dom ausmacht. Wenn Etzel der Hunnenkönig ist, dann ist Vontobel so etwas wie der Anführer der Gruppe der Suchenden. Der König auf dem Plastik-Stuhl.
Die Arbeit am Stück, die Arbeit am Text, den die beiden Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel vorgelegt haben, ist die Suche nach der Perfektion. Die Suche nach dem tieferen Sinn hinter den Worten. Es ist eine stete Suche bis zur Uraufführung am Freitag.
Von Claudia Wößner