Joachim-Felix Leonhard war als Schüler bei Auschwitz-Prozessen dabei
Was darf man Schülern zumuten? Der Besuch des Auschwitz-Prozesses durch eine AKG-Klasse 1965 rührt an pädagogisch brisante Fragen.
Von Christian Knatz
Joachim-Felix Leonhard mit einem Exemplar des "Kurfürst" von 1965. Den AKG-Schüler von einst hat der Besuch des Auschwitz-Prozesses nicht losgelassen. Foto: Sascha Lotz
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HEPPENHEIM/BERGSTRASSE - Das vergisst man nicht. Ein Zeuge schildert, wie ein SS-Mann in Auschwitz einen Säugling gegen die Wand warf. Joachim-Felix Leonhard hat vom Grauen des Genozids zumindest ein wenig unmittelbarer erfahren als die meisten Zeitgenossen. Als Schüler hatte er mit seiner Klasse am Alten Kurfürstlichen Gymnasium Bensheim einen Tag lang den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt erlebt oder besser: erlitten. Was der spätere hessische Kunst-Staatssekretär am 25. März 1965 ein Jahr vor seinem Abitur im Bürgerhaus Gallus zu sehen und hören bekam, entfaltete in mehrfacher Hinsicht Langzeitwirkung.
Zum einen war der frühere Direktor der Stiftung Rundfunkarchiv auch wegen seiner Zeugenschaft eine treibende Kraft bei der Aufnahme der Prozessakten und Tonbandmitschnitte in das Unesco-Register "Memory of the World" vor einem Monat. Zum anderen waren die Eindrücke derart prägend, dass er Vorträge darüber hält und bereits in einer 1965er-Ausgabe der Schülerzeitung "Kurfürst" berichtet hat.
Ein Mann erzählt, wie er zwei Menschen erschossen hat
"Wir sind damals sehr still nach Hause gefahren", sagt er heute. "Nicht traumatisiert, aber sehr, sehr nachdenklich." Dann war die Botschaft wohl angekommen, meint Stefan Mitze. Der Studiendirektor am Bensheimer Goethe-Gymnasium ist zugleich Fachleiter für die Ausbildung von Gymnasiallehrern am Studienseminar in Heppenheim. In den Schilderungen von Leonhard zur schrecklichen Stippvisite von 1965 entdeckt der Experte die Schlüssel zum Erfolg dieser Art Anschauungsunterricht.
DOKUMENTE DES SCHRECKENS
Von Dezember 1963 bis August 1965 wurde in Frankfurt gegen 22 ehemalige Angehörige der SS verhandelt, denen die Justiz Verbrechen im Konzentrationslager Auschwitz vorwarf. Ihre Aussagen und die Vernehmung von 1400 Zeugen sind erhalten in 465 Aktenbänden und 103 Tonbändern mit mehr als 500 Stunden Aufnahmen, die in hessischen Archiven lagern.
Mit einem Festakt im Haus Gallus, wohin der Prozess vom Römer verlegt worden war, wurden diese Quellen am 16. Mai in das Weltdokumentenerbe der Kulturorganisation Unesco aufgenommen.
Fast alle Angeklagten wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im Vernichtungslager Auschwitz waren zwischen 1940 und 1945 mehr als eine Million Menschen ermordet worden.
Die Fahrt nach Frankfurt wurde vor- und nachbereitet. Entschieden wurde, einigem Murren einzelner zum Trotz, im Klassenverbund; einen Zwang mitzufahren, gab es nicht. "Betroffenheits-Druck sorgt für Widerstand", sagt der just im Jahr 1965 geborene Mitze, "gerade in dieser Lebensphase". Auch ohne die vielzitierte Moralkeule zu schwingen, sei es aber sehr wohl Ziel des Geschichtsunterrichts, auf den Wert von Demokratie, Toleranz oder Interkulturalität hinzuweisen - all das also, was ab 1933 in Deutschland mit Füßen getreten wurde.
Der Besuch einer gut gemachten Gedenkstätte wie dem ehemaligen Konzentrationslager Osthofen bei Worms oder eben ein Tag beim Auschwitz-Prozess könne dafür Vortreffliches leisten. "Man kommt weg von der Zahl der sechs Millionen Opfer und hin zu Einzelschicksalen", sagt Stefan Mitze zu diesen außerschulischen Lernorten. "Dann verstehen die Schüler besser, wie ein Mensch gelitten hat, was gewöhnliche Personen angerichtet haben und dass das alles sehr wohl etwas mit ihnen zu tun hat."
In diesem Sinn hat der 25. März 1965, der 145. Verhandlungstag, bei Joachim-Felix Leonhard gewirkt. An diesem Tag schildert Wilhelm Boger, die "Bestie von Auschwitz", wie er zwei Menschen auf der Rampe des Konzentrationslagers erschossen hatte. "Alles mechanisch und technisch", erzählt der Schüler von einst. "Da war nicht ein Minimum von Einsicht. Schon gar keine Reue." In einer Zeit, in der noch vieles verdrängt worden sei, habe es ihn gedrängt, "die Fassungslosigkeit zu Papier zu bringen". In der Schülerzeitung.
Am Anfang war also der Schock, und der kann nach Einschätzung von Lehrer-Ausbilder Mitze nicht nur heilsam, sondern auch gefährlich sein. Nicht nur, weil er Abwehrmechanismen auszulösen vermag, sondern auch, indem der Blick auf das Wesentliche verstellt wird. "Es gibt einen Sensationsaspekt", sagt er zur authentischen Begegnung mit Orten des Schreckens, mit Tätern wie Opfern. Was didaktisch im Grundsatz sinnvoll sei, könne in der Konzentration auf blutrünstige Geschichten die gewünschte Wirkung verlieren. Um so wichtiger sei die sachliche Einordnung durch Pädagogen.
Leonhard hat die Problematik schon als Schüler in weise Worte gekleidet: "Grund zur Sensation ist es nicht, was verhandelt wird: Menschlichkeit ist für Sensationen zu heilig", steht im "Kurfürst". Und zu wichtig, um nicht am grauenvollen Beispiel Holocaust immer wieder ins Gedächtnis der Menschheit gerufen zu werden, meint der erwachsene Autor: "Man muss das immer wieder neu erzählen." Seinen Lehrern von damals, Hans-Jörg Geißler und Volker Claus, ist Joachim-Felix Leonhard heute noch dankbar für die Lektion, die nicht aufgezwungen und für damalige Verhältnisse überaus progressiv war.
Zeitzeugengespräche können nicht mehr lang geführt werden
Die Szenerie abseits der Inhalte war im Bürgerhaus Gallus auch gar nicht spektakulär, so wie Osthofen äußerlich wenig mehr zeigt als eine leere Fabrikhalle. Wie von Hannah Arendt beschrieben saßen dort auf der Anklagebank keine Monster, sondern Biedermänner, die unentwegt etwas von Befehlen und ihrer unausweichlichen Ausführung faselten.
Mit Stefan Mitze ist sich Joachim-Felix Leonhard einig, dass diese Art Erinnerungskultur - auch in Zeitzeugengesprächen - gepflegt werden muss. Mitze: "Noch leben Menschen, für die das kein Vogelschiss war." In Hessen stärkt die Verfassung dieses Ansinnen, indem sie dem Geschichtsunterricht Verfassungsrang verleiht. Dafür müssten die Lehrpläne der NS-Zeit gar keine Sonderstellung zuweisen; entscheidend sei auch im Fach Geschichte, Kompetenzen wie Urteilsfähigkeit zu schulen.
Manche klagen, in diesem speziellen historischen Fall sei bei der gern pauschal eingeordneten Jugend von heute Hopfen und Malz verloren. Zur Behauptung, sie wisse nichts über die Hitler-Zeit, sagt der Pädagoge mit Bestimmtheit: "Das kann ich nicht bestätigen."