Bischof: Vertuschen von Missbrauchsfällen „katastrophal“

Bischof Peter Kohlgraf: "Am meisten hat mich die große Zahl der Missbrauchsfälle erschüttert." Foto: Harald Kaster

Bei der Aufklärung von Fällen sexueller Gewalt in der katholischen Kirche setzt das Mainzer Bistum auf Transparenz. Die Aufarbeitung beschäftigt auch andere Diözesen in Hessen.

Anzeige

MAINZ. Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche bleibt für die Bistümer in Hessen eine Daueraufgabe. In den Diözesen laufen weiterhin Untersuchungen, Projekte oder Vorbereitungen zur Einsetzung von Kommissionen. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf will aus der laufenden Studie zu Fällen von sexueller Gewalt im Bistum die "notwendigen Lehren ziehen, um eine noch wirksamere Prävention umzusetzen".

Mit Blick auf die im Oktober bekannt gewordenen Zwischenergebnisse der Untersuchung sagte Kohlgraf der Deutschen Presse-Agentur: "Wir können eigentlich nur um Vertrauen werben, indem wir uns dem Thema Missbrauch und vielen anderen schwierigen Themen stellen. Das Wegsehen hilft nicht und das Vertuschen ist katastrophal."

Bislang 273 Beschuldigten und 422 Betroffene

Die bislang vorliegenden Erkenntnisse weisen darauf hin, dass das Ausmaß sexueller Gewalt im Mainzer Bistum, das auch auf hessischem Gebiet liegt, weitaus größer ist als bislang gedacht. Nach persönlichen Kontakten und intensiver Aktenprüfung ging der mit der Untersuchung beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber zu diesem Zeitpunkt von 273 Beschuldigten und 422 Betroffenen aus. Der Abschlussbericht der Untersuchung, die die Zeit von 1945 bis 2019 umfasst, soll voraussichtlich 2022 vorgelegt werden.

Anzeige

Kohlgraf wies darauf hin, dass neben dieser Untersuchung unter dem Titel "Erfahren - Verstehen - Vorsorgen (EVV)" eine unabhängige Aufarbeitungskommission im Bistum damit beschäftigt sei, sich "den Themen der Vergangenheit und auch den Themen der Gegenwart zu stellen". Der Bischof kündigte an: "Wir konkretisieren die Beteiligung von Betroffenen an der Aufarbeitung."

Bislang nur wenige Sanktionen

Während sich die sogenannte MHG-Studie aus dem Jahr 2018 vorrangig auf Kleriker und deren Gewalt gegenüber Minderjährigen beschränkt hatte, ist die aktuelle EVV-Studie weiter gefasst und bezieht sexualisierte Gewalt, sonstige sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen auch gegen erwachsene Männer und Frauen ein. Bei den Beschuldigten handelt es sich nicht nur um Kleriker, sondern auch um Laien, kirchliche Angestellte oder Gruppenleiter.

Nach den bislang vorliegenden Ergebnissen war eine häufige Reaktion auf Missbrauchsfälle einzig die Versetzung von Beschuldigten in eine andere Pfarrei. Selbst schwere Missbrauchsfälle hätten lediglich zu geringen Sanktionen seitens der Bistumsleitung geführt. Bei einem Bistumswechsel habe es vielfach keine Informationen über Vorfälle gegeben. Schweigegebote gegenüber Opfern, Meldern und Beschuldigten sowie "gezielte Aktenführung" hätten zu einer systematischen Verschleierung beigetragen. Der Anwalt nannte in diesem Zusammenhang namentlich Kohlgrafs Vorgänger, die beiden Kardinäle Hermann Volk und Karl Lehmann, was viele Gemeindemitglieder im Bistum aufhorchen ließ.

Auch "für die Zukunft lernen"

"Nach den Erkenntnissen der MHG-Studie hätte es mich gewundert, wenn es in der Amtszeit meiner beiden Vorgänger nicht auch Fehlverhalten gegeben hätte", sagte Kohlgraf, der 2017 die Führung des Bistums übernommen hatte. Die Reaktionen in den Kirchengemeinden darauf seien "größtenteils interessiert und positiv" gewesen. "Aber es gab natürlich auch Stimmen, die uns vorwerfen, wir würden jetzt ganz unhistorisch das Lebenswerk großer Persönlichkeiten ankratzen."

Anzeige

Doch das sei nicht das Thema, betonte Kohlgraf. "Vielmehr geht es darum, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben zu erfahren, wer wie in ihrem Fall gehandelt hat. Und es geht auch darum, für die Zukunft zu lernen. Genaueres werden wir nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts wissen."

Im Bistum Fulda soll im Sommer die Kommission zur Aufarbeitung von sexueller Gewalt ihre Arbeit aufnehmen. Sieben der neun Kommissionsmitglieder stünden bereits fest, hatte das Bistum kürzlich mitgeteilt. Darunter sind auch externe Fachleute. Zwei weitere Mitglieder sollen vom Betroffenenbeirat hinzu berufen werden, den die Bistümer Fulda, Limburg und Mainz in Kooperation bilden werden.

Im Rahmen der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch waren im Bistum Fulda 795 Akten untersucht und 29 Beschuldigte gefunden worden. Durch ihre multiprofessionelle Zusammensetzung entspreche die Kommission im Bistum Fulda «genau den bundesweiten Vorgaben, die Unabhängigkeit, Transparenz und Partizipation von Betroffenen sicherstellen», erklärte der Fuldaer Bischof Michael Gerber. Er verpflichte sich als Ortsordinarius zu einer Aufarbeitung, "die unabhängig erfolgt und über deren Ablauf und Ergebnisse Transparenz hergestellt wird. Gleiches gilt für eine verbindliche und institutionalisierte Beteiligung Betroffener, ohne die wirkliche Aufarbeitung nicht möglich ist", so der Bischof.

Das Bistum Limburg hat zur Aufarbeitung und Prävention von Missbrauchsfällen unter anderem das Projekt "Betroffene hören - Missbrauch verhindern" ins Leben gerufen. Wissenschaftler, Kirchenvertreter und Betroffene hatten mehrere Monate lang dafür neun Themenbereiche bearbeitet und rund 60 Maßnahmen vorgeschlagen, wie künftig Übergriffe verhindert werden sollen. Zudem wurden 46 aktenkundige Missbrauchsfälle von 1946 bis heute untersucht.

Allerdings gehe man davon aus, dass nicht alle Fälle im Bistum bekannt geworden seien, hieß es bei der Vorstellung der Projekt-Ergebnisse im vergangenen Juni. Im Herbst nahm ein Bistumsbeauftragter seine Arbeit auf, der für die Umsetzung der in dem Projekt erarbeiteten Maßnahmen zuständig ist. Aktuell laufen nach Angaben eines Sprechers zudem die Vorbereitungen, damit sich Interessierte für den gemeinsamen Betroffenenbeirat der Bistümer Mainz, Fulda und Limburg bewerben können.

Von dpa