Wie konnte sich Ali B., der mutmaßliche Mörder der 14-jährigen Susanna, bis zu seiner Tat am 22. Mai und noch danach unbehelligt in Deutschland aufhalten, obwohl sein Antrag...
WIESBADEN. Wie konnte sich Ali B. bis zu seiner Tat am 22. Mai und noch danach unbehelligt in Deutschland aufhalten, obwohl sein Antrag auf Asyl schon Ende 2016 abgelehnt worden war? Es ist eine der Fragen, die sich wohl den allermeisten aufdrängt, die den Fall Ali B. in den vergangenen Tagen verfolgt haben. Und sie hat gleich mehrere Antworten. Die Kurzfassung: Weil er aus dem Irak kommt, weil er im Zuge der großen Flüchtlingswelle 2015 nach Deutschland kam und weil er sich nach der Ablehnung des Asylantrags einen kompetenten Rechtsbeistand gesucht hatte.
Um es vorweg zu sagen: Nichts deutet bislang darauf hin, dass im Falle des Asylverfahrens von Ali B. und der anschließenden Klage etwas jenseits der Norm abgelaufen ist oder eine Justizbehörde sich gar grobe Verfehlungen vorwerfen lassen muss. Ali B. war noch im Lande, weil er es durfte. Mehr noch: Weil ihn in Deutschland niemand in die Heimat hätte abschieben dürfen. Seit einem Beschluss der Innenministerkonferenz im Jahr 2006 gilt ein Abschiebungsverbot für den Irak, das Rückführungen in das Land unmöglich macht. Dieser Beschluss, vermutlich mit Blick auf die Sicherheitslage im Land getroffen, wurde bislang nicht wieder aufgehoben. Selbst wenn ein Richter also die Klage gegen die Ablehnung zurückgewiesen hätte, Ali B. hätte weiter im Land bleiben können – so lange jedenfalls, wie das Abschiebungsverbot gilt.
Verfahren dauern normalerweise etwa 6,5 Monate
Dies dürfte, war aus Justizkreisen zu erfahren, auch der Grund dafür sein, dass sich das Verfahren gerade im Fall des späteren Gewalttäters so lange hinzog. Die meisten Richter räumten schlichtweg den Fällen Priorität ein, bei denen auch tatsächlich Aussicht auf eine Vollstreckung des Urteils besteht. Weshalb sich mühsam in ein Verfahren einarbeiten, Ermittlungen und Recherchen anstrengen, wenn das Ergebnis ohnehin eine – wie auch immer geartete – Aufenthaltserlaubnis ist und der Kläger ja bereits im Land?
Aus dem Hessischen Justizministerium hieß es auf Nachfrage, die durchschnittliche Verfahrensdauer im Bereich Asylrecht am Wiesbadener Verwaltungsgericht sei auch deutlich kürzer als die im Fall Ali B.: Etwa 6,5 Monate dauert es bis zu einer Entscheidung. Die Gerichte, sagt Pressesprecher René Brosius, hätten im Nachgang der Flüchtlingswelle 2015 einen „unnormalen Verfahrensansturm“ erlebt. Nachdem zunächst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einer Antragsflut ausgesetzt war, seien einige Monate später schließlich die Gerichte mit einer Vielzahl an Klagen gegen die Entscheidungen des BAMF konfrontiert – mittendrin: die Klage von Ali B.
4.715 Asyl-bezogene Verfahren waren 2017 alleine am Wiesbadener Verwaltungsgericht anhängig. Das Land reagierte während der Zeit der Zunahme mit Neueinstellungen. Von 2015 bis 2017 wurden 45 zusätzliche Richter zur Verstärkung der Verwaltungsgerichte eingestellt, der Personalstand am Wiesbadener Standort erhöhte sich in dem Zeitraum von 39,5 auf 47. „Mittlerweile ist der Berg an Verfahren auch schon wieder vorbei“, berichtet Brosius. Bis Ende März lief 2018 gerade noch ein Drittel der Verfahren im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Zeitgewinnung durch Taktik
Doch nicht nur äußere Umstände führten zu der langen Bearbeitungszeit der Klage von Ali B. Wie diese Zeitung von einem Kenner des Verfahrens erfuhr, hatte der Anwalt des Irakers zwar Klage eingereicht, dieser aber offenbar keine Begründung beigefügt. Damit wird zwar die aufschiebende Wirkung der Rechtsmittel gültig, dem Gericht bleibt aber zunächst wenig anderes übrig, als zu warten. Die Praxis ist offenbar ein übliches Vorgehen von Anwälten, die Mandanten in Asyl-Fragen und anderen Verfahren zu Aufenthaltserlaubnissen vertreten. Schließlich lässt sich, unabhängig von den Aussichten des eigentlichen Verfahrens, auf diese Weise zumindest etwas Zeit für die Mandanten gewinnen.
Randnotiz: Das seit Ende 2016 schwebende Verfahren zur Asyl-Ablehnung von Ali B. ist am Montag eingestellt worden. Nicht wegen der Festnahme des Irakers, sondern wegen seiner Flucht in die Türkei und weiter in den Irak. Die gilt nämlich als „freiwillige Ausreise“ und lässt alle Klagen gegen eine Ausweisung erlöschen.
Von André Domes