Immer wieder kommen neue Fragen auf, die den Fall der getöteten Susanna aus Mainz betreffen. Auch Fragen zum allgemeinen Umgang mit Vermisstenfällen stellen sich jetzt. Denn...
MAINZ/WIESBADEN. Täglich stellen sich neue Fragen im Fall der getöteten 14-jährigen Susanna aus Mainz: Insbesondere die Rolle der Mainzer Polizei, bei der das Mädchen bereits am 23. Mai als vermisst gemeldet wurde, ist weitgehend unklar. Die Polizei hält sich bedeckt, verwies bislang vor allem auf das laufende Ermittlungsverfahren. Genauere Informationen zum Vorgehen der Mainzer Polizei sollen am Donnerstag im Rechtsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags folgen. Dabei gibt es einige offene Fragen: Warum hat es eine Woche gedauert, bis intensive Suchmaßnahmen nach dem Mädchen eingeleitet wurden, obwohl die Mutter sofort Zweifel äußerte, dass eine WhatsApp-Nachricht von Susanna überhaupt von ihr stamme und zudem bekannt war, dass das Mädchen wegen psychischer Probleme in Behandlung war?
Fest steht: Susanna wurde am 23. Mai bei der Mainzer Polizei als vermisst gemeldet. Am 30. Mai übergab man den Fall an die Wiesbadener Kollegen, die sofort intensive Suchmaßnahmen einleiteten. Am vergangenen Mittwoch wurde der vergrabene Leichnam des Mädchens in einem Gebüsch in Wiesbaden-Erbenheim gefunden.
Eine Übersicht über seit der Vermisstenmeldung getroffene Maßnahmen der Mainzer Polizei sei angefordert, liege allerdings noch nicht vor, erklärte die Wiesbadener Staatsanwaltschaft am Dienstag. Am Nachmittag des 24. Mai erhielt ihre Mutter eine WhatsApp-Nachricht vom Handy ihrer Tochter; mit folgender Botschaft: „Mama ich komm nicht nach Hause. Ich bin mit meinem Freund nach Paris gefahren. Such mich nicht. Ich komm nach 2 oder 3 Wochen. Bye.“ Das sei nicht die Schreibart ihrer Tochter – „und ich weiß nicht, ob es in ihrem Einverständnis geschrieben wurde“ –, so die Mutter.
Vorgehen „nicht ungewöhnlich“
Dennoch dauerte es weitere sechs Tage, bis die Suchmaßnahmen intensiviert wurden. Experten halten ein solches Vorgehen für „nicht ungewöhnlich“. So auch Peter Jamin, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Vermisstenfällen beschäftigt. „Dass eine Polizei bei häufig abgängigen Jugendlichen vorsichtig reagiert und abwartet, ist per se nicht ungewöhnlich“, betont der Schriftsteller und Journalist. Zumal die Anzahl der Jugendlichen, die vorübergehend verschwinden und als vermisst gemeldet werden, hoch ist. Alleine in Deutschland lag sie im Jahr 2016 bei 60000 vermissten Kindern und Jugendlichen.
Ein enormer Aufwand für eine unterbesetzte Polizei. Zumal die Hälfte der Vermissten laut BKA innerhalb weniger Tage, über 80 Prozent innerhalb von vier Wochen wieder auftauchten. „Den zuständigen Polizisten und Dienststellen kann man im Grunde keinen Vorwurf machen“, sagt Jamin. Dennoch dürfe man diesen Zustand nicht akzeptieren. „Im Umgang mit Vermisstenfällen ist Deutschland ein Entwicklungsland. Die Situation ist katastrophal.“ Der Polizei fehlt es an Personal, Polizeiführung und Politik zeigten wenig Interesse: „Man nimmt das Thema seit Jahren nicht ernst genug“, so Jamin. Dabei bräuchten gerade Angehörige vermisster Minderjähriger deutlich mehr Unterstützung, letztlich erfahrene Ansprechpartner und Anlaufstellen, die sich auskennen, beruhigen. Das sind auch Faktoren, die Ermittlungen beeinflussen können, weil Zeugen ruhiger sind, strukturierter aussagen.
Seit Jahren fordert Jamin, den Umgang mit Vermisstenfällen neu zu strukturieren, konkret in den Kommunen Ansprechpartner zu installieren, um so auch die Polizei zu entlasten. Es fehle in der Tat an einer übergeordneten Systematik, wie Behörden in Vermisstenfällen, auch gerade von Kindern und Jugendlichen, vorgingen, sagt auch Lars Bruhns aus dem Vorstand der bundesweiten Initiative Vermisste Kinder. „Man kann den zuständigen Polizeidienststellen in den meisten Fällen gar nicht mal vorwerfen, dass sie große Fehler gemacht hätten.“
Große Anzahl an Fällen, fehlende Strukturen
Das Vorgehen der Polizei kranke schlicht an der großen Masse an Vermisstenfällen und fehlenden Strukturen, um Gefährdungslagen unkompliziert und schnell einzuschätzen“, so Bruhns. Alleine 2016 seien rund 60000 Kinder in Deutschland als vermisst gemeldet worden. Während andere europäische Staaten wie Luxemburg, Belgien, Polen, Tschechien, die Niederlande oder auch Frankreich inzwischen bereits fortschrittlichere Alarmierungssysteme, in die verschiedene Akteure involviert sind, installiert hätten, hinkt Deutschland laut Bruhns weiter hinterher.
Zum einen müsse die bereits bestehende Vermisstendatenbank INPOL detaillierter ausgestaltet werden, vor allem Gefährdungslage, erweitert werden. „Es muss schneller und deutlicher erkennbar sein, wie stark die Gefährdung im Einzelfall ist.“ Zudem brauche es eine übergeordnete Koordinierungsstelle, die alle Fälle im Blick behält. Ob diese Stelle letztlich neu auf der jeweiligen Landesebene errichtet oder bei der Polizei angesiedelt werde, sei letztlich nicht entscheidend, so Bruhns. „Hauptsache die Fälle werden schneller und zielführender bewertet.“ Dies gelte auch für den Informationsfluss. Um etwa Zeugen zu erreichen, müssten Informationen über diverse Kanäle möglichst breit gestreut werden. In den Niederlanden etwa könnten innerhalb von 15 Minuten zwölf von 17 Millionen Einwohnern erreicht werden. Ursächlich für die Schwerfälligkeit des deutschen Systems seien Bruhns dessen föderaler Charakter, das viele Abstimmungen zwischen den Ländern nötig mache, und die Situation der Polizei; personell und strategisch.
Wie umfangreich die Angehörigen von Susanna von der Polizei letztlich begleitet wurden, ist nicht bekannt. Fakt ist jedoch, dass ihre Mutter bei Facebook öffentlich Kritik am Vorgehen der Polizei äußerte, sich im Stich gelassen fühlte.