WORMS - Martin Zingsheim hält seinem Publikum den Spiegel vor. Wer sich darin wiedererkennt, darf trotzdem gerne über sich selber lachen, denn Freaks sind nicht immer nur die anderen, eine Erkenntnis, mit der der Musiker, Chansonnier, Satiriker und Kabarettist die Zuschauer am Sonntagabend nach fast zwei Stunden unterhaltsamem „Kopfkino“ im Lincoln entließ.
Sprachlich gewandt, musikalisch versiert
Sprachlich gewandt, pointiert und musikalisch versiert, aber wenig böse oder gar aggressiv, präsentierte der promovierte Musikwissenschaftler sein aktuelles Bühnenprogramm, mit dem er seit über zwei Jahren durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourt. Der Kölner bevorzugt die charmant-verschmitzten, leisen Plaudertöne, und doch ist seine Botschaft eindeutig: öfter mal die eigene Perspektive infrage stellen, denn jeder halte sich doch fälschlicherweise für normal und in seinem Kopf unweigerlich für den Mittelpunkt des Universums.
Nicht ptolemäisch oder kopernikanisch, nein, „seehoferesk“ sei unser Weltbild. Gut nachahmen könnten dies auch Nicht-Bayern und Nicht-Bayerinnen. Sein Tipp: „Einfach ’ne Kiste Tuborg ganz alleine wegknallen und voilà: Alles, alles, alles dreht sich um mich.“ Bei dem 1984 geborenen Preisträger des Deutschen Kleinkunstpreises 2015 (Förderpreis) sowie des internationalen Radio-Kabarettpreises „Salzburger Stier“ 2016 bekommt jeder sein Fett weg, auch er selbst als Dreifachvater, also „Leibeigener“, und als Veganer, der „mittlerweile tierisch vegan drauf“ ist. Aber nicht nur in puncto Ernährung, mittlerweile „eine Frage der kulturellen Disposition“, geht es um scharfsinnige Selbstreflexion. Bei aller lustigen Sprachakrobatik rund um Apfelsaft, der überraschenderweise nicht nur aus Äpfeln besteht, und Suppen, die in Alutüten gedeihen, ist immer ein auch doppelter Boden dabei, und Zingsheim entlarvt die Scheinheiligkeit rund um „Ökowahn“ und „Bio-Hype“: Elektroschocks gehen eben auch mit Ökostrom.
Deshalb verweilt er auch gerne beim Thema Religion. Warum nicht mal mit missionarischem Eifer von Haustür zu Haustür gehen und über Gott lästern oder in die Kirche eintreten, um sie von innen zu zersetzen oder sie enteignen und das Geld in agnostisch-atheistische Kindergärten stecken? Zwar kommt das „klassische Mann-Frau-Gedöns“ zu kurz, beim Thema Politik gibt es dafür Lob für die Ostdeutschen: „Die haben es 1989 geschafft, ihre Regierung zu stürzen, ohne sie zu erschießen.“ Kunstpause. „An der Taktik hätte man heute Interesse.“ Die 90er ließ Zingsheim musikalisch in einem Medley, komprimiert am Flügel, gesanglich Revue passieren und resümiert: „Wir hatten Pech.“ Letztlich machte er genüsslich und mit einem Augenzwinkern genau das, was er sich eingangs vorgenommen hatte: nämlich Missstände ansprechen, soziale Ungerechtigkeiten aufdecken, Zerstörung der Umwelt aufhalten und Lebensmittelkonzerne entlarven. Das ist nicht immer überraschend und originell, aber der 32-Jährige schaffte es trittsicher, den schmalen Grat zwischen Unterhaltung und Unterweisung zu beschreiten, sein Publikum sowohl zum Lachen als auch zum Nachdenken zu bringen.