„Wunderhoeren“ in Worms

Ralph Dutli wurde bei der Lesung im Chateau Schembs musikalisch von Gary Fuhrmann und Matthias Dörsam begleitet. Foto: photoagenten/Ben Pakalski

Damals wie heute: Kritik am Werteverfall. Ralph Dutli erweckt Schriften aus dem 13. Jahrhundert zu neuem Leben. Musikalische Intermezzi begleiten die Rezitation

Anzeige

WORMS. Ein französischer Dichter aus dem 13. Jahrhundert wendet sich mit einer Botschaft an Donald Trump. Er benennt den Hochmut, kritisiert Machtmissbrauch, legt den Finger auf die Wunde und zeigt auf eine Gesellschaft, in der Arm und Reich sich diametral gegenüberstehen und die Werte zu verfallen drohen. Wie kommt der Poet aus der Vergangenheit dazu und wie bringt er seine Worte an?

Der Verfasser der kritischen Worte heißt Rutebeuf, ist der erste bedeutende Pariser Autor in der französischen Literaturgeschichte und hat in dem Romanautor, Lyriker, Essayisten und Übersetzer Ralph Dutli ein Medium gefunden, das seine Schriften im 21. Jahrhundert zu neuem Leben erweckt. Erst 750 Jahre nach Rutebeufs Schaffenszeit macht Dutli in seinem Buch „Winterpech & Sommerpech“ die spannenden und zeitgeschichtlich hoch wertvollen Texte der deutschen Literaturlandschaft zugänglich. In der Reihe „Wunderhoeren“ konnte man nun eine Auswahl dieser einzigartigen Sprachkunstwerke genießen, in Verbindung mit Musik des mittelalterlichen Komponisten Neidhart von Reuental. Der Übersetzer, besser: künstlerischer Überträger selbst interpretierte ausgewählte Kapitel, die trotz ihrer Entstehungszeit frappierend aktuelle Bezüge hinsichtlich gesellschaftlicher Werte aufweisen. Zum Gesamtkunstwerk machten den Abend Gary Fuhrmann und Matthias Dörsam, die von Reuental überlieferte Melodien ausgewählt hatten, um sie in Improvisationen weiterzuentwickeln und ins Hier und Jetzt zu holen – in Miniatur-Intermezzi während der Rezitation von Dutli.

Ein großartiges Hörtheater entstand so in der gut gefüllten Remise des Herrnsheimer Schlosses. In seiner Zeit war Ruteboeuf ein gesellschaftlicher Außenseiter, literarisch lange verkannt, der unter dem fahrenden Volk lebte, Armut kannte und biografisch darüber berichtete. In der Wahrnehmung und Schilderung der Ereignisse wie in seinem Denken war er radikal, ein kompromissloser Mahner, der zugleicht mit satter Ironie und derbem Humor seine Texte in direkter Hinwendung an den Rezipienten verfasste. Einen musikalischen Vergleich heranziehend, könnte man ihn als experimentellen Jazzer oder sogar teilweise in seiner Derbheit als Rocker charakterisieren, der Grenzen überschreitet und seine Zuhörer ohne jede Rücksicht mit scharfen Tönen und existenziellen Klängen konfrontiert. So krass gingen Fuhrmann und Dörsam die musikalische Gestaltung des Abends zum Glück nicht an. Mit zwei Bassklarinetten und deren tiefem, organischen Sound eröffneten sie mit der ersten Improvisation über ein Thema von Reuental eine Klangwelt, die in unmittelbarer Verbindung zu den tiefgründigen, kunstvollen und packenden Texten stand. Zwischen den literarischen Parts schufen eigens angefertigte Kompositionen der beiden Blasinstrument-Spezialisten in Verbindung mit faszinierend fließender, wohlklingender, wenngleich nicht im landläufigen Sinn harmonischer Improvisation jeweils die Verbindung zwischen alt und neu, zwischen schlicht und virtuos. Stets zweistimmig miteinander kommunizierend nutzten sie das tonale Spektrum weiterer tiefer Blasinstrumente, einer Es-Kontraalt-Klarinette und zwei Tenorsaxofonen, und boten, alles in allem gesehen, mittels Reuentals Ausgangsmaterial letztlich eine musikalische Charakterstudie Rutebeufs: tiefgründig, unkonventionell, witzig, aus dem Rahmen fallend, authentisch und dramatisch. Ralph Dutli, ein Großmeister rhetorischer und literarischer Stilmittel, agierte als Alter Ego des Dichters mit faszinierender darstellerischer Kraft, einer kraftvollen, intensiven Sprache von allerhöchster dichterischer Qualität und emotionaler Authentizität. Ein zutiefst beeindruckendes Erlebnis.