Freitag,
19.05.2017 - 20:00
5 min
Das selbstfahrende Auto kommt – Uni Mainz diskutiert Künstliche Intelligenz

Von Frank Schmidt-Wyk
Reporter Rheinhessen

Hände weg vom Steuer: Was früher als Mahnung an alkoholisierte Autofahrer gedacht war, umschreibt heute die Mobilität der Zukunft. Foto: dpa ( Foto: dpa)
MAINZ - Auf exakte Jahreszahlen legt er sich ungern fest, doch diese Prognose wagt Prof. Wolfgang Wahlster schon: In 20 Jahren werden in Deutschland keine Fahrzeuge mehr unterwegs sein, die noch von Hand gesteuert werden. Eine Prophezeiung mit einigem Gewicht, denn sie kommt von einem Wissenschaftler, der als „KI-Papst“ gilt, als Koryphäe auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Womöglich wird schon vorher in einzelnen Großstädten mit besonders hoher Verkehrsdichte, vielleicht in Berlin, Hamburg oder München, das autonome Fahren ohne menschliches Zutun im Cockpit zur Pflicht – auch das kann sich Wahlster vorstellen.
Software-Updates künftig häufiger als Ölwechsel
Also: Die Frage ist längst nicht mehr, ob das selbstfahrende Auto kommt, sondern nur noch wann. Längst sind moderne Fahrzeuge vollgestopft mit Assistenzsystemen wie Einparkhilfe, Verkehrsschilderkennung, Nachtsichthilfe oder Spurassistent. Software übernimmt immer mehr Funktionen, im Motorraum, bei der Getriebesteuerung, im Cockpit. Selbst in einem Mittelklassewagen sind heute mehr als hundert Kleincomputer verbaut. „In Zukunft wird ein Software-Update öfter vorkommen als ein Ölwechsel“, sagt Wahlster voraus.
Assistiertes Fahren ist mittlerweile Standard. Teilweise vollzogen ist auch schon der nächste Schritt zum teilautonomen Fahren: Die Technik führt selbstständig ein beschränktes Set an Manövern durch, übernimmt phasenweise die Kontrolle, ersetzt den Fahrer aber noch nicht vollständig. „Eyes off“ („Augen zu“), nennen die Entwickler dieses Zwischenstadium: Der (menschliche) Fahrer kann beruhigt die Augen schließen, zumindest vorübergehend. Das angestrebte Endziel heißt jedoch „Mind off“: Der Mensch schaltet ab, die Technik übernimmt vollständig. „Da wollen wir hin“, sagt Wahlster.
Ohne Sensoren geht schon heute nichts mehr
Der Weg ist auch gar nicht mehr weit: Die meisten technischen Probleme sind bereits gelöst. Als ausgereift darf eine Schlüsseltechnologie des autonomen Fahrens, die Sensorik bezeichnet werden: das Sammeln möglichst vieler Daten über die Fahrzeugumgebung mittels Radar, Laserscanner, Kameras und Ultraschall. Schon in den Autos von heute geht ohne Sensoren nichts mehr: „Würden Sie alle abstellen, würden Sie garantiert im Graben landen“, sagt Wahlster.
Die Sensorik ist eine Paradedisziplin von Unternehmen wie Bosch und Continental. Es mag überraschend klingen, doch überhaupt ist Deutschland laut Wahlster bei der Entwicklung des selbstfahrenden Autos weltweit führend: 58 Prozent aller seit 2010 angemeldeten Patente seien in deutscher Hand. Das ständige Gerede vom Vorsprung der US-Konzerne Google und Tesla sei Quatsch. Für Wahlster ist es nun eine „wirtschaftliche Existenzfrage“, ob es der deutschen Automobilindustrie auch gelingt, ihre weltweite Spitzenposition bei der Entwicklung des autonomen Fahrens zu behaupten.
STIFTUNGSPROFESSUR
Prof. Wolfgang Wahlster ist Inhaber der Stiftungsprofessur 2017. Der 64-jährige Informatiker aus dem Saarland gilt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI). Mit dem 1988 gegründeten Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), das rund 800 Wissenschaftler an vier Standorten beschäftigt (Kaiserslautern, Saarbrücken, Bremen, Berlin), leitet Wahlster die – gemessen an Umsatz und Personal – weltweit größte Forschungseinrichtung auf diesem Gebiet. Zu den Gesellschaftern zählen neben den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Saarland und Bremen deutsche und internationale Hochtechnologie-Unternehmen, darunter BMW, Volkswagen, Bosch sowie die amerikanischen IT-Konzerne Microsoft und Google. Das DFKI ist bislang das einzige Unternehmen in Europa, an dem Google mit Kapitaleinlage und Sitz im Aufsichtsrat direkt beteiligt ist. Gerade wurde Wahlster von Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) in die Lenkungsgruppe des Zukunftsprojekts „Lernende Systeme“ berufen, von dem sich das Ministerium – wie auch vom bereits bestehenden Projekt „Industrie 4.0“ – wichtige Impulse zu zentralen Aspekten der Digitalisierung erhofft. Wahlster lehrt Künstliche Intelligenz an der Universität Saarbrücken.
Weitere Termine
Dienstag, 23. Mai: Internet 4.0 – Das Internet der Dinge kommt in die Fabriken
Dienstag, 30. Mai: Die nächste Generation von Robotern – Arbeiten im Team mit dem Menschen (mit Gastredner Prof. Frank Kirchner, Universität Bremen)
Dienstag, 13. Juni: Big Data – Maschinelles Lernen und Wissensextraktion aus großen Datenmengen
Dienstag, 20. Juni: Datensouveränität, Privatsphärenschutz und Langzeitsicherheit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz (mit Gastredner Prof. Johannes Buchmann, TU Darmstadt)
Dienstag, 27. Juni: Die Smart-Service-Welt – Disruptive Geschäftsmodelle in einer Plattform-Ökonomie (mit Gastredner Prof. Henning Kagermann, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften)
Dienstag, 4. Juli: Können Computer Emotionen verstehen und ausdrücken? (Mit Gastrednerin Prof. Elisabeth André, Uni Augsburg)
Abschlussveranstaltung Dienstag, 11. Juli: Können digitale Assistenzsysteme das selbstbestimmte Leben im Alter erleichtern?
Alle Veranstaltungen finden statt im Hörsaal RW 1, Haus Recht und Wirtschaft, Jakob-Welder-Weg 9, Campus Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zeit: 18.15 bis ca. 20 Uhr.
Weitere Termine
Dienstag, 23. Mai: Internet 4.0 – Das Internet der Dinge kommt in die Fabriken
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Abschlussveranstaltung Dienstag, 11. Juli: Können digitale Assistenzsysteme das selbstbestimmte Leben im Alter erleichtern?
Alle Veranstaltungen finden statt im Hörsaal RW 1, Haus Recht und Wirtschaft, Jakob-Welder-Weg 9, Campus Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zeit: 18.15 bis ca. 20 Uhr.
Das „Internet der Dinge“ in der Highspeed-Variante
Neben der Sensorik kommt es im selbstfahrenden Auto entscheidend auf hochleistungsfähige Kommunikationstechnik an: Ständig müssen Informationen ausgetauscht werden, mit anderen Fahrzeugen, aber auch mit der Infrastruktur, mit Ampeln, Bahnschranken, mit der Straße. Das „Internet der Dinge“ in der Highspeed-Variante: Die Datenübermittlung muss auch bei hohen Geschwindigkeiten reibungslos funktionieren. Tut es laut Wahlster auch. Für ihn steckt die total vernetzte Verkehrswelt voller Möglichkeiten: Liegengebliebene Pannenfahrzeuge, die näher kommende Autos vor dem Hindernis warnen, das Anzapfen der Kameras anderer Autos in der Umgebung, um den eigenen Blickwinkel zu erweitern. Alles schon in der Erprobung.
Zu den wenigen noch ungelösten Problemen technischer Art gehört die Kontrollübernahme durch den Menschen im akuten Bedarfsfall: „Take over immediately“ lautet die entsprechende Alarm-Anzeige im Tesla. Der Fahrer, mit den Gedanken womöglich gerade ganz woanders oder gar am Dösen, muss dann urplötzlich hellwach sein, die Situation sofort erfassen und handeln – ein hochkritischer Moment. Wie man diesen Übergang sanfter gestalten kann, den menschlichen Fahrer möglichst frühzeitig auf die Übernahme des Steuers vorbereiten kann, dazu findet derzeit ein intensives Brainstorming der Branche statt. Laut Wahlster gibt es bereits vielversprechende Ansätze, doch wirklich praktikable Lösungen zu finden, wird schwierig: Es liegt in der Natur der Sache, dass Unvorhergesehenes abrupt geschieht und abruptes Reagieren erfodert.
Weiterführende Links
Die Wissenschaftler tun alles dafür, damit die Technik alle denkbaren Situationen meistert. Ihre Methode heißt „Deep Learning“: Sie trainieren die neuronalen Netzwerke der Computer, indem sie Unmengen von Daten einspeisen, mit großem Aufwand jeden nur erdenklichen Zwischenfall simulieren. Ein Kind, das auf einem Bobbycar zwischen geparkten Autos auf die Straße saust. Ein ohne Vorwarnung in den Gegenverkehr steuernder Lastwagen. Ein plötzliches Unwetter. Aktueller Trainings-Zwischenstand: Nur noch in zwei Prozent der Fälle ist menschliches Eingreifen erforderlich.
In der „Moral Machine“ von einem Dilemma zum nächsten
Autonome technische Systeme sollen auch in extrem zugespitzten Situationen selbstständig entscheiden, unter Umständen über Leben und Tod – das führt zwangsläufig zu hochbrisanten ethischen Fragestellungen. Einige davon werden beispielhaft in der Web-Simulation „Moral Machine“ des Massachusetts Institute of Technology durchexerziert: Der User muss beispielsweise entscheiden, ob das selbstfahrende Auto mit fünf Insassen in eine Gruppe Fußgänger rasen oder ausweichen, dafür aber frontal gegen eine Betonwand prallen soll. Wahlster hält gar nichts von der „Moral Machine“, auch wenn sie sehr interessante menschliche Antworten liefere: Erstens seien die Szenarien unsinnig, weil sie die Leistungsfähigkeit moderner Bremssysteme ignorierten. Zweitens dürften prinzipiell keine Abwägungen zum Wert des Lebens stattfinden. Stattdessen laute das oberste Gesetz: Sachschaden vor Personenschaden.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf – das hätte Wahlster an dieser Stelle auch sagen können. Unter dem Strich ein Plus an Sicherheit, ungeahnte Möglichkeiten zur Verdichtung des Verkehrs: Von den Vorteilen autonomen Fahrens ist der Professsor offensichtlich viel zu überzeugt, als dass er sich allzu intensiv mit Problemen auseinandersetzen will, die über das rein Technische hinausgehen.
Auch das gehört zu den schwierigen Aspekten des selbstfahrenden Autos: Vielen Menschen widerstrebt es, die Kontrolle im Auto vollständig abzugeben. Sie wollen nicht aufgeben, was gerade die deutsche Automobilindustrie bis in die Gegenwart hinein mit der Herstellung sportlicher Autos und dazu passender Werbung eifrig bedient: Freude am Fahren. Wahlsters Antwort darauf: Mit dem Autofahren ist es womöglich wie mit dem Skifahren – das wurde von Alpenbauern als Fortbewegungsmethode in den Bergen ersonnen und ist heute ein reiner Freizeitspaß. Wer in der Zukunft unbedingt selbst fahren wolle, könne das auf eigens eingerichteten „Just-for-Fun-Strecken“ tun, das ist Wahlsters Prognose. Nach seiner Ansicht ist das autonome Fahren für die meisten Menschen jedoch eine Befreiung aus der Monotonie täglicher Staus. „Die Digitalisierung hilft uns, verlorene Lebenszeit zurückzugewinnen. Sie können ein gutes Buch lesen oder sich mit Ihrer Frau unterhalten – und müssen sich nicht mehr über andere Fahrer ärgern.“