Der Himmel ist 2017 nicht eingestürzt - ob er wieder heller wird, liegt an uns.
Von Lars Hennemann, Chefredakteur Darmstädter Echo
Symbolfoto: stock.adobe
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Als Donald Trump mit der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels am Ende eines ereignisreichen Politikjahres noch einmal auf die Populismus-Pauke haute, riet seine Botschafterin bei den Vereinten Nationen zur Gelassenheit: „Der Himmel ist nicht eingestürzt“, sagte die nie um Zuspitzung verlegene Nikki Haley.
Nein, er ist nicht eingestürzt, der Himmel. Wie auch? Die Gesetze der Physik kann schließlich sogar der Feuerkopf im Weißen Haus nicht außer Kraft setzen. Was also sagt uns die Botschaft aus Washington? Sollen wir zufrieden sein, dass 2017 nicht alles noch schlimmer gekommen ist als manch ein Experte – oder jemand, der sich dafür hielt – eingangs des Jahres geraunt hat? Oder ist es die neuerliche Aufforderung, lieb gewordene gedankliche Komfortzonen endlich hinter uns zu lassen?
Für alle, die sich immer noch nach der gedanklich festgefügten Welt des 20. Jahrhunderts sehnen oder diese sogar als weiterhin möglich erachten, war 2017 ein ganz schlechtes Jahr. Und das lag nicht nur daran, dass am 20. Januar mit dem Amtsantritt des 45. Präsidenten der USA quasi überall auf dem Globus alles ganz anders war. Diejenigen, die eine Beziehung zu Donald Trump finden mussten, waren vor allem selbst in keinem guten Zustand. Zuvorderst Europa.
Die Reihung vieler Probleme hat den Kontinent, der so gerne moralisch überlegen ist, ausgelaugt und für Populisten diverser Spielarten anfällig gemacht. Die Bankenkrise hatte gezeigt, dass das viel beschworene gemeinsame Haus kein echtes politisches Fundament hat. Schon gar kein belastbares. Wer nicht – wie Großbritannien – aus diesem Haus auszog, dekorierte sein Zimmer mit fragwürdiger Tapete um. So geschehen in Polen und Ungarn, aber nicht nur dort. Dass schließlich die Herausforderungen der Flüchtlingsthematik nicht gelöst, sondern großteils nur übertüncht wurden, verlieh dieser Entwicklung endgültigen Auftrieb. „Fällt Europa in die Hände der Populisten?“, lautete daher die bange Frage vor den beiden wichtigsten Wahlen 2017. Weder in Frankreich – wo dies zumindest zeitweilig tatsächlich zu befürchten stand – noch in Deutschland – wo dies nicht ernsthaft zur Debatte stand – kam es rechnerisch dazu. Aber trotzdem könnte die Lage mittlerweile unterschiedlicher kaum sein: Während Frankreich unter Emmanuel Macron seit Mai Handlungsfähigkeit und Gestaltungsanspruch demonstriert, ist Deutschland, das noch im Frühjahr besorgte Beistandsadressen an die Seine geschickt hatte, unter einem politischen Patt begraben. Keine Koalition, keine Regierung, kein Plan. Aber Populismus satt.
Das Nicht-Sehen-Wollen von Veränderungen wirkt wie Gift
Keine Panik, eine Staatskrise ist das nicht. Der Himmel über Berlin stürzt nicht ein. Aber er ist dunkel. Und wird es selbst im Fall einer irgendwann zustande kommenden Koalitionsbildung bleiben. Weil die Ursachen für die dunklen Wolken auch dann nicht verschwunden sein werden, wenn sich an der Spree eine Notgemeinschaft findet.
Bei der Ursachenforschung sollte man sich tunlichst vor vorschnellen Schlüssen hüten. Klar, die AfD ist das Problem. Als nunmehr siebte Partei in den Bundestag eingezogen, hat sie die klassischen Mehrheitsschemata jenseits der ungeliebten GroKo obsolet werden lassen. Gegen die Rechtspopulisten gibt es nur ungewöhnliche Mehrheiten – oder keine. Das alles kam wenig überraschend. Die Umfragen waren stabil. Wie sich auch im Falle von neuerlichen Wahlen nur wenig daran ändern würde. Um so erstaunlicher also die Alternativlosigkeit jenseits des Hochrisikoprojektes Jamaika, mit der Angela Merkel seit September zu Werke ging.
Der Ausgang ist bekannt. Man muss sich seither fragen, ob es nicht jenseits der krakeelenden Populisten der sichtbaren, ersten Ebene – AfD, Front National, Trump und wie sie alle heißen (zahlreiche Linkspopulisten nicht zu vergessen) – noch andere Populisten gibt. Die man nicht sofort sieht, hört oder vor allem in den sozialen Netzen liest, deren Wirken aber viel tiefer reicht und manchmal die Krakeeler überhaupt erst möglich oder groß werden lässt.
Es sind diejenigen, die die teilweise gewaltigen Veränderungen in der Welt und im eigenen Land zwar durchaus erkennen, sich aber zumindest nach außen hin weigern, daraus Konsequenzen zu ziehen. Die sich und anderen einreden wollen, das gehe vorüber, wie schlechtes Wetter. Oder man komme mit ein paar kosmetischen Retuschen weiter. Das ist dann keine Krawallstrategie zum Machterwerb, wie sie die Populisten der ersten Ebene pflegen. Wohl aber eine zum Machterhalt. Populismus 2.0, der auf Dauer sogar noch giftiger wirkt. Erst recht, wenn – wie geschehen – die Nicht-Sehen-Woller nicht mehr hinbekommen, als sich moralisch zu erheben. Natürlich muss man Demagogen und Krakeelern ohne Wenn und Aber entgegentreten. Aber wenn man außer Empörung keine politischen Lösungen für die eigentlichen Probleme zu bieten hat, bleiben die Krakeeler und werden sogar weiter stärker.
Was aus dem bürgerlichen Lager wird, ist ungewiss
In Deutschland gab es darüber hinaus nach der Bundestagswahl noch eine weitere, ganz spezielle Spielart des Populismus zu bestaunen, und zwar in Gestalt der von Christian Lindner geführten FDP. Mit taktisch wirklich meisterhafter Arbeit hat Lindner die vor vier Jahren fast tote Partei nicht nur revitalisiert, sondern genau auf jener Bruchlinie im bürgerlichen Teil der Gesellschaft platziert, entlang der aktuell die maßgeblichen Debatten verlaufen. Aber weil noch lange nicht entschieden ist, ob sich der Teil links oder der Teil rechts der Bruchlinie durchsetzen wird (oder ob der Bruch zu kitten ist), hielt Lindner sich und seine Partei lieber in der Schwebe, als sich auf eine Koalition festzulegen. Frei nach dem Motto „Lieber in zwei oder vier Jahren ein Macron oder ein Kurz sein als jetzt durch Mutti kompromittiert zu werden.“ Populismus 3.0, als Wette auf die Zukunft.
Ganz schön viele dunkle Wolken, aber es gab und gibt auch gute Nachrichten. Vor allem diese: Ein politisches System, das so viel Dunkles aushält, ist ganz schön stabil. Das gilt ebenfalls für Deutschland und Europa gleichermaßen. Außer Trump wollten im zurückliegenden Jahr noch eine ganze Menge anderer wissen, wie viel es aushält. Der türkische Präsident Erdogan durch Geiselnahme von Journalisten. Islamisten und die durch sie fortdauernde Bedrohung. Die Führung in Peking durch die stärkste wirtschaftpolitische Agenda, die die Welt je gesehen hat. Und globale Digitalplattformen, die drauf und dran sind, sich staatlichem Denken und Handeln zu entziehen. Europäisch geprägtem allemal.
Den Krakeelern steht vielfach nur das Volk entgegen
Das nur aushalten zu wollen, wird irgendwann trotz aller im System noch vorhandenen Substanz unmöglich werden. Wo die Politik aber noch Antworten sucht (oder sie eben auf diversen Populismusebenen verweigert), bleibt nur – „populus“, das Volk. Und es schien 2017 gleich mehrfach, als habe es sehr viel deutlicher verstanden, was die Stunde geschlagen hat, als diejenigen, die es repräsentieren sollen.
Seit April etwa ist „Pulse of Europe“ ein eingetragener Verein. Jene ursprünglich in privatem Kontext in Frankfurt gegründete Initiative, die Kundgebungen in über 100 Städten mit Zehntausenden von Teilnehmern nach sich zog und mittlerweile mit Preisen überschüttet wird. Beim „Science March“ wiederum, der von der Alexander von Humboldt Stiftung, dem Deutschen Hochschulverband, dem Akademischen Austauschdienst, der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, der Leibniz-Gemeinschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft unterstützt wurde, gingen Wissenschaftler auf die Straße, um sich gegen populistische Anfeindungen zur Wehr zu setzen. Ein ebenso Mut machender wie eigentlich ungeheuerlicher Vorgang. Weil er überhaupt notwendig geworden war.
Theater und Orchester wollten da nicht abseits stehen. Der Deutsche Bühnenverein prägte einen der wichtigsten Sätze des Jahres, den leider kaum jemand hörte: „Halbwahrheiten entkräftet man nicht, indem man den wahren Teil bestreitet, sondern den unwahren benennt.“ Diese Maxime ist so gut, dass sie auch im Privaten jederzeit anwendbar ist und bei konsequenter und mutiger Anwendung mindestens den Populisten der ersten beiden Ebenen das Wasser abgräbt.
Private Organisationen, Forscher, Künstler – ist das am Ende alles, das der aufgeklärte Teil der Welt gegen den um sich greifenden Populismus und die gewaltigen Kräfte, die in seinem Windschatten Gelände gewinnen wollen, aufbieten kann? Ist das nicht eine arg romantische Bilanz am Ende eines Jahres? Zwei mal Nein. Erstens, weil es ganz grundsätzlich gar nicht anders sein kann und darf. Jeder Einzelne, mit seinem Verhalten und mit seinen Haltungen, macht am Ende den Unterschied aus. Ein Staat oder ein Kontinent, in dem das vergessen geht, ist totalitär. Also tot. Zweitens, weil vom Kern gemeinschaftlicher Überzeugungen aus ein Rückfluss in die Politik erfolgt. Wenn die noch bereit ist, dazu zu lernen. Bedarf hätte sie reichlich.
Die Ordnung der Nachkriegszeit ist endgültig Geschichte
Wenn uns die Trumps, Gaulands, Erdogans und viele andere uns in diesem Jahr gequält und gefordert haben, dann war das mit Sicherheit nicht angenehm. Wir können das beklagen – oder daraus lernen. Wie auch aus der Geschwindigkeit, mit der die Digitalisierung und – am Horizont – Chinas Masterplan alles in Frage stellen, was noch von der tradierten Ordnung der Nachkriegszeit übrig geblieben ist. Die Verantwortung dafür Minderheiten, Schwachen und Verfolgten zuschieben zu wollen, ist ebenso populistisch wie das ganz generelle Verweigern von Antworten auf die Veränderungen. 2017 war das Jahr, das uns den Spiegel vorhielt. Der Sturm hat getobt, aber der Himmel ist nicht eingestürzt. Weil wir noch vom Kapital der Vergangenheit zehren. Aber das ist keine Brücke in die Zukunft. Wir werden uns der Realität stellen müssen. Schlechte Nachricht für Populisten: Das ist möglich, und es gibt Schlimmeres.