Kollege Roboter: Arbeiten in den Fabriken der Zukunft
Von Frank Schmidt-Wyk
Reporter Rheinhessen
Gestatten, AILA: In Bremen experimentieren Wissenschaftler mit einer zweiarmigen Roboterdame. Sie soll lernen, ihre Umgebung wahrzunehmen und zu verstehen, sich darin zu bewegen und sich mit Objekten zu beschäftigen. Foto: DFKI Bremen
( Foto: DFKI Bremen)
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MAINZ - Müsli – nicht gerade das, was einem beim Thema Künstliche Intelligenz als erstes in den Sinn kommt. Es geht ja auch nicht um das Müsli selbst, sondern darum, wie das Produkt gemacht und vermarktet wird: Das erfolgreiche deutsche Start-Up „mymuesli“ gilt als Paradebeispiel dafür, in welche Richtung die vierte industrielle Revolution führt, gemeinhin „Industrie 4.0“ genannt. Eine deutsche Wortschöpfung: Zu den geistigen Vätern zählt Prof. Wolfgang Wahlster.
Auf der Website von „mymuesli“ können sich Kunden aus über 80 Zutaten ihre Lieblingsmischung zusammenstellen. Die Mixtur wird dann am Firmensitz Passau hergestellt und verschickt. Die Produktionsstätte – das Unternehmen bevorzugt die Vokabel „Manufaktur“ – ist eine typische „Smart Factory“: Die Verpackung durchläuft einen Parcours von Stationen und wird exakt mit den Ingredienzien befüllt, die der Kunde bestellt hat. Wie auf einem Wochenmarkt, wo der Besucher mit seinem Korb von Stand zu Stand geht, um seinen Einkaufszettel abzuarbeiten.
Das Produkt sagt den Maschinen, was sie tun sollen
Die entscheidende Neuerung bei Industrie 4.0: Die Fabrik wird zum Netzwerk miteinander kommunizierender, intelligenter Objekte – und das schließt nicht nur die Fertigungsmaschinen, sondern auch das Produkt selbst mit ein. Bedeutet: Das Produkt – in diesem Fall die Müslibox – kommuniziert während des Herstellungsprozesses mit den Maschinen, sagt ihnen, was sie tun sollen. Schokoladenraspel? Rein damit. Chia-Samen? Nein, danke. Haferflocken? Gerne.
Gestatten, AILA: In Bremen experimentieren Wissenschaftler mit einer zweiarmigen Roboterdame. Sie soll lernen, ihre Umgebung wahrzunehmen und zu verstehen, sich darin zu bewegen und sich mit Objekten zu beschäftigen. Foto: DFKI Bremen Foto: DFKI Bremen
Roboterarme können menschliche Arbeiter unterstützen, indem sie beispielsweise schwere Bauteile bewegen. Foto: dpa Foto: dpa
Prof. Frank Kirchner, Inhaber des Lehrstuhls für Informatik und Robotik an der Universität Bremen sowie Leiter des DFKI-Standorts Bremen. Foto: dfki Foto: dfki
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Die schematischen Herstellungsprozesse in den Fabriken der alten Industrie 3.0 vergleicht Wahlster mit klassischer Musik: Die Musiker spielen präzise das, was die Notenblätter vorgeben und der Dirigent verlangt. Industrie 4.0 ist für Wahlster hingegen Jazz: Innerhalb eines Rasters, an das sich alle halten, kann und soll jeder einzelne Musiker munter improvisieren – am Ende kommt es entscheidend auf die Qualität des Zusammenspiels an.
Grundlagentechnik für das Funktionieren der Industrie 4.0 ist die Einbettung von Computern in physische Systeme. Man kennt das längst aus dem Alltag: Keine Waschmaschine, kein Fernseher, keine Espressomaschine kommt heute ohne implantierte Computer aus. Auf der Mikro-Ebene eignen sich RFID-Chips als Informationsträger: Sie lassen sich leicht und unauffällig als digitale Gedächtnisträger in Produkte einbauen.
STIFTUNGSPROFESSUR
Prof. Wolfgang Wahlster ist Inhaber der Stiftungsprofessur 2017. Der 64-jährige Informatiker aus dem Saarland gilt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI). Mit dem 1988 gegründeten Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), das rund 800 Wissenschaftler an vier Standorten beschäftigt (Kaiserslautern, Saarbrücken, Bremen, Berlin), leitet Wahlster die – gemessen an Umsatz und Personal – weltweit größte Forschungseinrichtung auf diesem Gebiet. Zu den Gesellschaftern zählen neben den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Saarland und Bremen deutsche und internationale Hochtechnologie-Unternehmen, darunter die amerikanischen IT-Konzerne Microsoft und Google. Das DFKI ist bislang das einzige Unternehmen in Europa, an dem Google mit Kapitaleinlage und Sitz im Aufsichtsrat direkt beteiligt ist. Wahlster lehrt Künstliche Intelligenz an der Universität Saarbrücken.
Die Vorlesung zum Thema Robotik hielt als Gastredner Prof. Frank Kirchner, Inhaber des Lehrstuhls für Informatik und Robotik an der Universität Bremen sowie Leiter des DFKI-Standorts Bremen.
Weitere Termine
Dienstag, 13. Juni: Big Data – Maschinelles Lernen und Wissensextraktion aus großen Datenmengen
Dienstag, 20. Juni: Datensouveränität, Privatsphärenschutz und Langzeitsicherheit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz (mit Gastredner Prof. Johannes Buchmann, TU Darmstadt)
Dienstag, 27. Juni: Die Smart-Service-Welt – Disruptive Geschäftsmodelle in einer Plattform-Ökonomie (mit Gastredner Prof. Henning Kagermann, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften)
Dienstag, 4. Juli: Können Computer Emotionen verstehen und ausdrücken? (Mit Gastrednerin Prof. Elisabeth André, Uni Augsburg)
Abschlussveranstaltung Dienstag, 11. Juli: Können digitale Assistenzsysteme das selbstbestimmte Leben im Alter erleichtern?
Alle Veranstaltungen finden statt im Hörsaal RW 1, Haus Recht und Wirtschaft, Jakob-Welder-Weg 9, Campus Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zeit: 18.15 bis ca. 20 Uhr.
Wahlster ist überzeugt: Moderne Konsumenten wollen keine Massenware von der Stange mehr, sondern individualisierte Produkte, die ihren persönlichen Bedürfnissen und Vorlieben angepasst sind. Um diesen Wunsch zu erfüllen, sei die smarte Fabrik das perfekte Mittel, schwärmt Wahlster: Sie ermögliche eine viel flexiblere Produktion sowie rasche und unkomplizierte Prozesswechsel – kurzum: die Massenherstellung von Unikaten.
Der Mensch, versichert Wahlster, wird in der Industrie 4.0 nicht überflüssig – im Gegenteil. Aufgrund seiner überlegenen sensormotorischen Fähigkeiten werde es auch in der Smart Factory Aufgaben für ihn geben, etwa in der Qualitätskontrolle oder der Wartung. Die Zukunft liege weniger in der Vollautomatisierung als in der Flexibilisierung der Produktion durch das Zusammenspiel von Mensch und intelligenter Maschine: „Roboter werden aus ihren Käfigen befreit und unterstützen die Arbeiter.“
Weltraum-Mission in 100 Kilometern Meerestiefe
Längst ist die Rede von „Cobots“, von „Collaborative Robots“, die innerhalb hybrider Teams Menschen assistieren sollen. Indem sie etwa an passender Stelle Teile parat legen, Schrauben anreichen oder ganze Arbeitsschritte ausführen, die Kollegen aus Fleisch und Blut schwer fallen würden oder gefährlich für sie wären. „Die Zukunft der Arbeit wird vermutlich in diese Richtung gehen“, prognostiziert auch Wahlsters Kollege, Robotik-Experte Prof. Frank Kirchner vom DFKI Bremen.
Um eng mit Menschen zusammenarbeiten zu können, auch, um sie nicht zu gefährden, müssen sich Roboter in menschlichen Umgebungen zurechtfinden. Sie müssen menschliche Verhaltensweisen erlernen und menschliche Intentionen vorhersehen. Die Komplexität der menschlichen Lebenswirklichkeit sensorisch zu erfassen, die sich dabei auftürmenden riesigen Datenmengen in die neuronalen Netzwerke der KI-Systeme einzuspeisen und Algorithmen zu entwickeln, die Roboter dazu befähigen, aus der Fülle von Handlungsmöglichkeiten die passenden auszuwählen, das ist eine gewaltige Herausforderung für die Wissenschaftler. Unmöglich ist es nicht: Die Fortschritte sind so enorm, dass sich allmählich die Frage stellt, wer wohl künftig wem assistieren wird: der Roboter dem Menschen – oder umgekehrt?
Wie beeindruckend weit die Entwicklung schon ist, zeigt sich dort, wo Roboter völlig autonom und weit weg vom Menschen in lebensfeindlichen Umgebungen operieren sollen.
Gemeinsam mit einem brasilianischen Forschungsinstitut und einem britischen Energieunternehmen entwickelt das DFKI Bremen gerade ein autonomes Unterwasserfahrzeug. „FlatFish“, so heißt das intelligente unbemannte Mini-U-Boot, könnte etwa zur Inspektion von Bohrinseln oder Pipelines eingesetzt werden. Es operiert von einer Unterwasser-Docking-Station aus und ist in der Lage, einen zuvor erstellten Missionsplan selbstständig abzuarbeiten. Zurückgekehrt ins Dock, lädt „FlatFish“ die Daten hoch, die seine optischen und akustischen Sensoren unterwegs erfasst haben. Der User erhält eine dreidimensionale Rekonstruktion der Unterwasser-Infrastruktur.
Noch ambitionierter ist das Projekt Europa-Explorer: Im Auftrag des Bundesforschungsministeriums sowie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt erstellt das DFKI Bremen gerade eine Studie für zukünftige Missionen mit einer Robotersonde zum Jupitermond Europa, unter dessen Eisschicht Forscher einen gewaltigen Ozean aus flüssigem Wasser vermuten. Auf dem Trabanten angekommen, müsste sich die Sonde erst durch eine bis zu 15 Kilometer dicke Eisdecke fräsen, dann womöglich weitere 100 Kilometer tief auf den Meeresboden absinken, Messdaten sammeln, zur Eintrittsstelle zurückkehren, sich wieder zur Oberfläche hocharbeiten und die Daten zur Erde funken. Eine Aufgabe, die nur ein vollautonomes System bewältigen kann, das keiner Fernsteuerung von der Erde bedarf.
Könnte ein Szenario wie aus „Matrix“ Realität werden?
Die Realität scheint die menschliche Fantasie zu überholen. Doch wo sind die Grenzen? Besteht tatsächlich die Gefahr, dass irgendwann Maschinen die Kontrolle übernehmen und sich gegen den Menschen wenden? Ein Szenario, wie man es aus Science-Fiction-Blockbustern wie „Matrix“ oder „Terminator“ kennt.
„Ausschließen können wir so etwas nicht“, sagt Kirchner. Kein Naturgesetz verbiete, dass Maschinen Intelligenz entwickeln, sogar intelligenter werden könnten als der Mensch. „Wir sollten“, lautet seine Empfehlung, „uns darauf konzentrieren, selbst nicht weniger intelligent zu werden.“
Dumm nur, dass genau das – die Herabsetzung der kognitiven Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns – der Nebeneffekt einer ungebremsten Digitalisierung und einer fortschreitenden Substitution menschlicher durch künstliche Intelligenz auch im Alltag sein könnte.