Zum 60-jährigen Bandjubiläum machen die Rolling Stones Station in München – und beweisen, dass Rock´n´Roll keine Frage des Alters ist. Ein Detail der Show gibt aber zu denken.
MÜNCHEN. Ein fast 79-Jähriger, der immer wieder wie ein Derwisch über die Bühne rennt, geschmeidig wie ein durchtrainierter Sportler seinen gertenschlanken Körper schlangenartig bewegt, lasziv die Hüften schwingt: Mick Jagger, Frontmann der Rolling Stones, ist nicht nur unbestritten der „Sexiest Senior Alive“, er versieht auch das Wort steinalt mit einer völlig neuen Bedeutung.
Nun ist wieder Stein-Zeit in Europa. Mit der Tournee „Sixty“ feiern Mick Jagger, Keith Richards (78) und „Nesthäkchen“ Ron Wood (75) das unglaubliche 60-jährige Bühnenjubiläum der Rolling Stones (wobei von der Urbesetzung nur noch Jagger und Richards dabei sind). Und natürlich rollen die Steine aus diesem Anlass auch wieder durch Deutschland. Nach dem Pfingstkonzert im Münchener Olympiastadion steht am 27. Juli noch ein Auftritt in Gelsenkirchen an.
Trauer um Bandkollegen Charlie Watts
Nicht einmal drei Jahre sind seit den letzten Stones-Auftritten in Europa vergangen – und doch ist bei „Sixty“ alles anders. Bevor die magischen Worte „Ladies and Gentlemen...The Rolling Stones“ und dann die ersten Akkorde von „Street Fighting Man“ erklingen, wird auf den Großleinwänden des im vergangenen Jahr verstorbenen Schlagzeugers Charlie Watts gedacht. Und es ist für jeden fühlbar mehr als ein Lippenbekenntnis, als Mick nach ein paar Aufwärmsongs sagt, wie sehr die Band ihren jahrzehntelangen Wegbegleiter vermisst. Dass ausgerechnet jetzt und nach heftigstem Regen am Nachmittag der Himmel aufklart und ein formidabler Sonnenuntergang über dem Olympiastadion zu sehen ist, wird wohl nur ein Zufall sein, oder?
Steve Jordan, der den undankbaren Job übernahm, das Erbe von Charlie Watts anzutreten, erledigt seinen Job ausgezeichnet, scheint den Stil seines Vorgängers zu treffen, ohne sich selbst dabei zu verleugnen. Mit letzter Sicherheit kann man das allerdings nicht sagen, denn der Sound im Olympiastadion ist zu schlecht, um auf Nuancen achten zu können. Erkennbar sind die Begleitmusiker, teilweise auch schon seit Jahrzehnten bei den Stones-Touren dabei, in bester musikalischer Verfassung. Sie strecken gemeinsam mit ihren Chefs Mick, Keith und Ron in München all jenen die berühmte Stones-Zunge heraus, die behaupten, die Band verwalte nur ihren monumentalen Musikkatalog, sei aber längst nicht mehr kreativ tätig. Zwar spielen die Stones nach buchstäblich Tausenden Konzerten einige der Songs auf der Setlist routiniert herunter. Die meisten Stücke aber haben inzwischen ein Eigenleben entwickelt. In München gerät „Miss You“ zur Überraschung des Abends. Die famosen Bass-Soli von Darryl Jones, der Gesang von Jagger, der immer noch die hohen Töne so gut trifft, dass man es kaum glauben mag, die Einbeziehung des Publikums in die Inszenierung – es ist ein Wahnsinn.
Mitreißende Video- und Lichtinszenierungen
Die Songs, in die sich die unvermeidliche Routine eingeschlichen hat, werden, je dunkler es wird, durch die fantastische Video- und Lichtinszenierung (eher nicht Energieeffizienzklasse A, das Ganze) aufgewertet. Da verwandelt sich bei „Tumbling Dice“ das berühmte Stones-Logo erst in Würfel, dann in eine Gitarre, da wird im Corona-Song „Living in a Ghost Town“ der Lockdown-Schrecken wieder lebendig, da züngeln bei „Sympathy for the Devil“ in einem blutroten Rahmen die Flammen und sprühen die Funken, dass einem wegen der gruseligen Stimmung schon etwas mulmig wird.
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Zum – leider traurigen – Höhepunkt der Show wird die erste Zugabe: „War, children, it´s just a shot away“ (Krieg ist nur einen Schuss entfernt) singen Mick Jagger und Sasha Allen in „Gimme Shelter“, während auf der Videoleinwand das aus der vorherigen „No Filter“-Tour bekannte düstere Video zum Zustand der Zivilisation abläuft. Neu hinzugekommen sind bedrückende Bilder zerstörter Städte in der Ukraine. Der Olympiaturm wird derweil in den Nationalfarben des von Russland angegriffenen Landes beleuchtet. It’s only Rock’n’Roll? Von wegen!
Fluch der Rolling Stones?
Der Fluch der Rolling Stones, schrieb ein Konzertkritiker vor Jahren, sei es, in jeder Stadt, in der sie mit ihrem Charterjet landen, „Satisfaction“ spielen zu müssen. Von Pflichtübung ist das, was die Band und vor allem „Jumping Mick Flash“ zum Abschluss der Show abliefern, aber etwa so weit entfernt wie „Start Me Up“ von einem Kirchenlied. Noch einmal rennt Jagger über die Bühne, von der einen Seite zur anderen und wieder zurück, dann über einen Steg bis weit ins Publikum hinein. Das ist längst von den Sitzplätzen, von denen die teuersten so viel kosteten wie eine Reise nach Texas zu den „Honkytonk Women“, aufgesprungen und feiert frenetisch mit. Jagger seinerseits feuert die Menschen immer weiter an, scheint gar nicht mehr aufhören zu wollen – nach zwei Stunden harter Bühnenarbeit, wohlgemerkt.
Dann die Ernüchterung. Auf den Videleinwänden, wo zuletzt nach Abschluss eines Deutschlandkonzerts immer „Bis bald“ stand, ist jetzt schlicht „Danke“ zu lesen. Sollte „Sixty“ tatsächlich zur letzten Tour der Rolling Stones werden, wie Ron Wood in einem Interview versehentlich ausplauderte? Zurück im Hotel werden hektisch die Tourneepläne durchgearbeitet. Wo könnte man – außer in Gelsenkirchen – die Stones noch einmal erleben? Einigermaßen kommod zu erreichende Stationen der „Sixty“-Tour sind außer Gelsenkirchen noch Bern (13. Juni), Amsterdam (17. Juni), Brüssel (11. Juli) und Wien (15. Juli).