DARMSTADT - Es ist eine herausragende Position im Bundesland Hessen, einer der prestigeträchtigsten Jobs, den die Justiz zu vergeben hat. Für Top-Juristen und Spitzenbeamte die Krönung ihre Karriere. Doch die Stelle ist unbesetzt seit viereinhalb Jahren, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass mindestens ein halbes Jahrzehnt daraus wird.
Die scheinbar endlose Vakanz im Amt des Präsidenten des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt, zunächst als bürokratische Skurrilität belächelt, ist zur Peinlichkeit erster Güte für die Justizverwaltung geworden – und damit auch für das zuständige Ministerium.
Doch es geht nicht nur um Stilfragen bei der Suche nach einem Nachfolger für den bislang letzten Gerichtspräsidenten Harald Klein, der im November 2012 in den Ruhestand ging.
„Verbrannte Erde“ sei bei den gescheiterten bisherigen Besetzungsversuchen entstanden, erklärt die rechtspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, die Weiterstädter Abgeordnete Heike Hofmann. „Die Unruhe färbt auf die gesamte Sozialgerichtsbarkeit ab. Ihr fehlt zudem seit Jahren eine Lobby in der Öffentlichkeit. Die Sichtbarkeit und die positive Außendarstellung haben gelitten. Inzwischen haben wir Probleme, geeignete Bewerber für die Sozialgerichtsbarkeit zu gewinnen.“
Mangel an Nachdruck
Die Interessen dieser Gerichtsbarkeit würden in Wiesbaden nach Jahren ohne echte Leitung nicht mehr mit dem nötigen Nachdruck vertreten, klagt auch ein Richter an einem hessischen Sozialgericht. „Wir fühlen uns abgehängt.“ So würden, auch wegen der vielen Asylverfahren, in Hessen 250 zusätzliche Justizbedienstete eingestellt – doch davon komme kein einziger an die Sozialgerichte.
Die SPD hat seit Ende 2014 eine Reihe von Anfragen und Berichtsanträgen zum „Besetzungsdesaster am Hessischen Landessozialgericht“ an die Landesregierung gerichtet – um die Hintergründe aufzuklären, und sicher auch, um öffentlich auf die Pannenserie hinzuweisen. Die bisher letzte Anfrage wurde bei der jüngsten Sitzung des Rechtsausschusses von Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) beantwortet.
Die Ministerin erläutert dabei die unterschiedlichen Phasen des Besetzungsverfahrens. Gemeinsam ist es diesen Entwicklungsstufen seit 2012, dass es immer wieder zu Brüchen aufgrund von drohenden oder verkündeten Gerichtsentscheidungen kam – und dass bei diesen Streitigkeiten das Ministerium regelmäßig den Kürzeren zog.
Die Pannenserie begann unter Kühne-Hörmanns Vorgänger Jörg Uwe Hahn (FDP). Noch während Kleins Amtszeit war die Präsidentenstelle ausgeschrieben worden. Unter den Bewerbern war, kaum überraschend, Kleins Stellvertreter Jürgen de Felice, der bis heute als Vizepräsident amtiert und das Landessozialgericht kommissarisch leitet.
Das Besetzungsverfahren platzte jedoch Ende 2014. Kühne-Hörmann, die mittlerweile Hahn im Ministeramt abgelöst hatte, stoppte die Prozedur wegen gravierender formaler Fehler.
Was war geschehen? Wie zu erfahren war und auch durch die Ministerin bestätigt wurde, waren drei Schriftstücke aufgetaucht, die zwingend in die Akte des Bewerbungsverfahrens gehört hätten, dort aber nicht abgeheftet worden waren. Sie sollten anscheinend geheim bleiben: zwei Vermerke der Zentralabteilung des Ministeriums („Gedankenstützen für interne Gespräche“, so der Abteilungsleiter) sowie ein Schreiben „einer sich auf die Stelle bewerbenden Person vom 26. Juli 2013“.
Nach Informationen aus Justizkreisen handelte es sich bei der Person um Vizepräsident de Felice. Der Karrierejurist, der zuvor jahrelang im Ministerium tätig war, sei Hahns Favorit gewesen, heißt es. In dem Schreiben soll de Felice Anmerkungen zur Beurteilung einer Mitbewerberin gemacht haben – versehen mit dem Vermerk „persönlich, vertraulich“. Damit beförderte er sich mutmaßlich selbst ins Aus. Weil sein Schreiben dazu beitrug, das Verfahren platzen zu lassen, sei der Kandidat „verbrannt“, sagt ein hessischer Jurist.
Auch der zweite Anlauf scheitert
In einem vor einem Jahr erschienenen Interview mit dem Darmstädter Echo führte Ministerin Kühne-Hörmann weitere Verzögerungen im Besetzungsverfahren auf die Regelung zurück, dass sämtliche verwaltungsinternen Beurteilungen der Bewerber nach einem Jahr ungültig werden und neu erstellt werden müssen. Davon ist allerdings in ihrer Antwort auf die jüngste SPD-Anfrage keine Rede. Die Stelle wurde am 1. Januar 2015 im Justizministerialblatt neu ausgeschrieben. Auch der zweite Anlauf scheiterte jedoch.
Hintergrund: Zu den Bewerbern gehörten unter anderem eine Richterin, die bereits als Präsidentin eines anderen Gerichts amtierte, und ein Spitzenbeamter. „Die Auswahlentscheidung fiel zugunsten des Beamten aus“, teilte Kühne-Hörmann mit. Die Richterin focht die Entscheidung jedoch gerichtlich an – und bekam Recht. Das Verwaltungsgericht Frankfurt bestätigte ihre Auffassung, dass die vorliegenden Beurteilungen einer Richterin und eines Beamten nicht vergleichbar seien. Dem Land Hessen wurde es untersagt, den Wunschkandidaten zum Präsidenten zu ernennen.
Die Justizministerin wollte sich mit dieser Entscheidung nicht abfinden und zog dagegen vor den Hessischen Verwaltungsgerichtshof – nur um sich dort am 16. Juli 2016 die nächste Schlappe abzuholen. Die Kasseler Richter bestätigten die Entscheidung der ersten Instanz und forderten die Landesregierung auf, für die Vergleichbarkeit dienstlicher Beurteilungen zu sorgen.
Seit dem 1. August 2016 läuft nun die dritte Ausschreibungsrunde. Nach Angaben der Ministerin gingen fünf Bewerbungen ein; eine davon wurde zwischenzeitlich zurückgezogen. Für die verbliebenen Kandidaten liegen zwei Beurteilungen bereits vor, zwei weitere stehen noch aus. Auch da liegen dem Vernehmen nach Fallstricke bereit, da sich ein Bewerber gegen die Person verwahrt habe, die ihn beurteilten sollte.
„Die Besetzung der Präsidentenstelle wird seitens des Justizministeriums mit Nachdruck verfolgt“, versichert Kühne-Hörmann. „Die Dauer eines Besetzungsverfahrens liegt jedoch nicht ausschließlich in der Hand des Justizministeriums, sondern hängt auch von anderen Faktoren ab – insbesondere von der Durchführung von Konkurrentenstreitverfahren.“
Im Interview hatte die Ministerin vor Jahresfrist geseufzt: „Die Bereitschaft auch mal zu akzeptieren, wenn es ein anderer wird, war vor 20 Jahren stärker ausgeprägt.“
Expräsident Harald Klein hatte in seiner Amtszeit Wert darauf gelegt, die Gerichtsbarkeit von ihrem Podest zu holen. „Wir sind Dienstleister auf dem Gebiet der Konfliktregulierung und Streitschlichtung“, lautete sein Credo. „Dafür sollten wir uns nicht hinter Gesetzbüchern, Gerichtstresen oder Richterroben verstecken, sondern erklären und informieren.“
Nach viereinhalb Jahren ohne neue Führung sagt Heike Hofmann über Kleins Erbe im Gericht am Steubenplatz: „Das wird der Richterschaft nicht mehr vermittelt. Diese Philosophie gibt es so nicht mehr.“