Hutmacherin: Das Schlüsselloch am Hut

aus Altes und seltenes Handwerk

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Wasserdampf zur Verformungs des Filzes einbringen Foto: Simon Rauh

Was verbindet Hafenketten mit Kaninchenhaar? Das und noch mehr erzählt Susanne Schmitt in der neusten Folge unserer crossmedialen Serie. Die Darmstädterin behütet Menschen.

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DARMSTADT. Erdige Farbtöne dominieren an diesem Tag die Auswahl der Kappen, Mützen und Hüte, die fast im Raum zu schweben scheinen. Manche Stücke ordnen sich ganz von allein einem Anlass, einer Persönlichkeit oder einem Gesicht zu, das dazu passen würde. Neben einer klassisch anmutenden Tweed-Arbeitermütze wirkt das gleiche Modell in feinem Filz gearbeitet ungewöhnlich und chic. Ein zierlicher Damenhut im dunklen Rotton wirkt elegant und man fragt sich, welche Kleidung oder welcher Anlass dazu passen würde. Häufig wechseln die Anordnung und die Auswahl der Exponate. Der Laden in der Arheilger Straße gehört nun schon seit 2005 zum Kiezbild, täglich laufen Schulkinder, Flaneure und Touristen aus dem nahe gelegenen Welcome Hotel daran vorbei und blicken in den Ausstellungs- und Verkaufsraum der Manufaktur. Die Inszenierung der Kopfbedeckungen auf Eisenstangen umgeben von alten Koffern und zusammengetragenen Fundstücken erinnern an Rauminstallationen einer Galerie oder an ein Bühnenbild. Welche Verbindungen gibt es zwischen den einzelnen Ausstellungsstücken? Die Blicke und Gedanken beginnen unwillkürlich zu wandern, stellen Bezüge zu eigenen Vorstellungen, Reisen und Erfahrungen her. Die Schaufenstergestaltung verfolgt einen Ansatz, den viele Geschäfte, die einfach nur Produkte in die Auslage stellen, längst verloren haben.

Filz zuschneiden
Blaue Filzmütze
Fertigstellung der Innenseite einer Mütze
Formen eines Schirms der Mütze
Formen mit dem Bügeleisen
Formen mithilfe eines Bügeleisens
Geschmücktes Regalbrett
Hutkoffer
Hutvorlagen zur Umformung
Nähmaschine von Susanne Schmitt
Schneiden von Filz
Screenshot Ausstellung Rotterdam
Vorbereitung der Stoff-Stücke
Susanne spiegelt sich im Bügeleisen
Kettenhut-Kollage

Video-Reportage Hutmacherin

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Der hochwertige Filz, den Susanne Schmitt für ihre Hüte verarbeitet, wird aus Kaninchenhaar hergestellt. Das Material ist hochwertig, robust, formbar und leicht. Es gibt nur noch wenige Lieferanten, die Filz aus Kaninchenhaar anbieten. Die meisten Filze sind aus Schafwolle hergestellt – entsprechend unterschiedlich zart fühlt sich der Filz an. Die Rohstoffe bezieht sie in vielen verschiedenen Farben und bearbeitet sie dann im Atelier, das sich an den Ausstellungsraum anschließt. Traditionell werden Hüte um Holzmodelle von Kopfformen oder -bedeckungen gearbeitet. Doch gegen jede Wölbung und Ausbuchtung der Holzformen sträubt sich der Filz beharrlich. Deshalb wird mit einem heißen Bügeleisen und einem feuchten Tuch Wasserdampf in den Filz gebracht, um ihn zu weiten und in Form zu zwingen. Sobald der heiße Filz in eine Einkerbung oder um eine Rundung gearbeitet ist, muss er fixiert werden. Dafür werden spezielle Bänder um den Filz gespannt und lange Stahlnadeln in die Holzform getrieben. Diese Arbeit ist nichts für empfindliche Finger. Auch im Holz hinterlassen die Nadeln über die Jahre die charakteristischen Einstichspuren, die an Holzwurmbefall erinnern. Die Kopfbedeckungen trocknen langsam über Nacht.

„Bei meiner Geburt standen 12 Engel um meine Wiege und haben gesagt: Die wird Hutmacherin“, sagt Susanne Schmitt und lacht. Sie ist in Heidelberg aufgewachsen und hat dort ihr Abitur gemacht. Obwohl sie schon immer Hüte machen wollte, hat sie der Empfehlung des Berufsinformationszentrums entsprochen und erst eine Ausbildung zur Schreinergesellin im Odenwald gemacht. Bei einer Ausstellung in Mannheim hat sie die Hutmacherin Petra Thomas aus Speyer kennengelernt, bei der sie anschließend das Hutmacherhandwerk gelernt und sich damit selbständig gemacht hat. „Ich mache das nun seit 21 Jahren. Ich habe viele Märkte und viele Messen besucht und mein Geschäft so Stück für Stück aufgebaut, meine Nische gefunden und besetzt. Und mittlerweile kennen mich die Leute und kommen zu mir“, sagt Susanne Schmitt. Ihr erster fester Standort war für fünf Jahre eine Werkstatt im Handwerkshaus Ober-Ramstadt, direkt hinter dem Restaurant „Goldene Nudel“. Ein zunehmender Teil ihrer Kundschaft kommt wegen des Klimawandels zu ihr, weil die Kopfhaut oder die Augen vor der Sonne geschützt werden müssen. Obwohl Mützen, Kappen und Hüte wieder im Trend liegen, gehen doch die meisten Menschen heute ohne Hut aus dem Haus. Vor hundert Jahren wäre das undenkbar gewesen.

In Hüten denken

Susanne Schmitt interessiert sich sehr für das Abformen von ungewöhnlichen Dingen. Wenn die 48-Jährige durch die Stadt läuft, lässt sie sich gerne von Objekten inspirieren und denkt in Hüten. Sie probiert viele neue Wege in der Hutgestaltung, die sehr weit wegführen von der klassischen Vorstellung einer Kopfbedeckung. In Rotterdam hat sie eine alte, dreckige Hafenkette so fasziniert, dass sie sie kurzerhand mit weißem Flies überzogen, somit abgeformt und daraus einen Hut entwickelt hat. Sie möchte erforschen, was passiert, wenn ungewöhnliche Materialien und Vorstellungen miteinander kommunizieren. „Ich kann nicht sagen, warum ich ein Schlüsselloch in den Hut gemacht habe, aber ich kann sagen, dass mich das Ergebnis begeistert hat“, sagt die Hutmacherin. Deshalb finden ihre außergewöhnlichen Hutkreationen immer wieder auch ihren Weg in Museen und Galerien.

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Glückspflege

„Ich habe das Glück gefunden und pflege es auch. Für mich ist das wie eine gute Ehe, an der man über die Jahre arbeitet, sie immer wieder erneuert. Es ist ein Traum, aber es ist auch Arbeit“, sagt die Hutmacherin. Sie kann sich mit ihrem Handwerk frei und künstlerisch entwickeln, ist dadurch auch finanziell unabhängig und arbeitet selbstbestimmt. Die Hutmacherin tritt in die Fußstapfen der in Darmstadt berühmten Modistin Eva Franke-Weißgärber, die mit ihren extravaganten Hüten viele Jahre lang das Bild der Darmstädter Künstler- und Kulturszene geprägt hat. Darmstädter Hutmacher haben eine lange Tradition: 2000 Hüte pro Tag wurden um 1880 in Heinrich Schuchards Hutfabrik, der ersten des Kontinents, in Darmstadt produziert. Laut dem Stadtlexikon Darmstadt war das mit 250 Angestellten damals der bedeutendste Fabrikationsbetrieb der Stadt – noch vor Merck.

360-Grad-Rundgang durch den Austellungsraum und das Atelier der Hutmacherin

Persönlichkeit verändert sich durch Kleidung und auch Hüte. Es ist nur ein vergleichsweise kleines Utensil mit viel Wirkung, gerade, weil man heute nicht mehr selbstverständlich Hut trägt. Mit jeder Kopfbedeckung schlüpfen Menschen äußerlich und innerlich in eine andere Rolle. Oder sie werden so gesehen, wie sie sich gerade fühlen. Für Susanne Schmitt steht für Rollenwechsel täglich eine große Auswahl Hüte und Kappen zur Verfügung. Wenn das nicht genügt, dann formt sie etwas ganz Neues und erweckt damit eine weitere Idee zu neuem Hut-Leben.