Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke: Ex-Verfassungsschutzpräsident Roland Desch berichtete, den späteren Mörder Stephan Ernst niemals auf dem Schirm gehabt zu haben.
WIESBADEN. Der frühere hessische Verfassungsschutzpräsident Roland Desch ist während seiner Amtszeit von 2010 bis 2015 nicht in Berührung mit dem späteren Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, und dessen Kameraden Markus H. gekommen. Vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten sagte Desch am Freitag als Zeuge aus. Dabei berichtete er, erst nach dem Attentat vom 2. Juni 2019 durch die mediale Berichterstattung über die Mordermittlungen auf die beiden in Nordhessen einschlägig bekannten Rechtsextremisten aufmerksam geworden zu sein. „Mir haben diese beiden Namen nichts gesagt“, räumte der Darmstädter ein.
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Keine formale Amtsübergabe mit dem Vorgänger?
Es habe während seiner Amtszeit keinen Anlass gegeben, sich mit Ernst, der im Januar 2021 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und H., der wegen Beihilfe zum Mord angeklagt war, aber freigesprochen wurde, zu befassen. Andere Neonazis in Nordhessen seien als Führungspersonen und Gewalttäter zu dieser Zeit „deutlich bekannter und auffälliger“ gewesen, Ernst und H. seien daher „unterhalb des Radars“ gewesen. Dass Deschs Vorgänger im Amt, Alexander Eisvogel, Ernst noch im Herbst 2009 in einem Aktenvermerk mit Blick auf dessen gewalttätige Biografie in den 1990er Jahren als „brandgefährlich“ einschätzte und sich fragte, wie militant dieser mittlerweile sei, habe er nicht gewusst und erst aus den Medien erfahren. Just im Mai 2009 hatte Ernst mit Kameraden eine DGB-Kundgebung in Dortmund attackiert, wofür er im Folgejahr verurteilt wurde.
Es habe zwischen Eisvogel und ihm keine formale Übergabe gegeben, bei der solche offenen Fragen hätten besprochen werden können – weil zwischen dem Ausscheiden seines Vorgängers und seinem eigenen Amtsantritt mehrere Wochen gelegen hätten, sagte Desch.
Eisvogel hatte als Zeuge im Untersuchungsausschuss das Gegenteil zu Protokoll gegeben. Unterschiedliche Einschätzungen hatten beide Präsidenten auch hinsichtlich der Arbeit im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV). Während Eisvogel die bei seinem Amtsantritt 2006 vorgefundene personelle Ausstattung und die allgemeine Qualität kritisierte, berichtete Desch, der 2010 übernahm, von „engagierten Mitarbeitern, die ihr Bestes gaben“.
Trotzdem habe er mehrfachen Optimierungsbedarf gesehen, etwa bei der Personalausstattung, der Aus- und Fortbildung, die er recht bald intensiviert und professionalisiert habe, sowie der Arbeitsweise. So seien die beiden Abteilungen Beschaffung und Auswertung unter einer Leitung zusammengelegt, zudem ab 2011 eine lageorientierte „Besondere Aufbauorganisation“ initiiert worden.
Dass die Bearbeitungsdauer von Personenakten bei allein 1300 hessischen Rechtsextremisten für einen enormen Rückstau sorgte, kam bereits bei früheren Zeugenbefragungen von LfV-Mitarbeitern im Untersuchungsausschuss zur Sprache. Desch sprach jetzt von einer „Wahnsinnsarbeit“, die viel Arbeitskraft gebunden habe. Um den Aufwand zu reduzieren, sei ein vereinfachtes Verfahren eingeführt worden. Dies allerdings von einer Abteilungsleiterin, er als Präsident habe davon keine nähere Kenntnis gehabt.
Ebensowenig von einem Verfahren, das der damalige Innenminister Boris Rhein (CDU) gegenüber dem damaligen Datenschutzbeauftragten Michael Ronellenfitsch darlegte: Demnach seien alle Aktensperrungen als Einzelfallentscheidung dem LfV-Präsidenten vorzulegen. Das betreffende Schreiben kenne er nicht, betonte Desch, auch eine entsprechende Anweisung habe es nicht gegeben.
Auch Ernsts Personenakte wäre gemäß den datenschutzrechtlichen Vorgaben nach fünf Jahren gelöscht worden, weil keine neuen Erkenntnisse vorlagen, betonte Desch. Nach der NSU-Mordserie habe das Landesamt ab November 2011 aber alle Akten gezielt durchforstet und sei dann dazu übergegangen, diese Akten nicht mehr zu löschen, sondern für den Dienstgebrauch zu sperren. So auch Ernsts Personenakte im Jahr 2015. Die Frage, ob der Mord an Lübcke ohne diese Sperrung der Akte hätte verhindert werden können, stelle sich ihm nicht, sagte der 69-Jährige.
Für die Landtagsopposition belegten Deschs Ausführungen schwere Versäumnisse der Verfassungsschützer. FDP-Obmann Stefan Müller forderte mit Blick auf die anstehende Ablösung von LfV-Präsident Robert Schäfer, der Landespolizeipräsident wird, eine formalisierte Übergabe beim Chefwechsel.
Der Untersuchungsausschuss, der bislang 33 Sitzungen absolvierte, möchte bis Februar noch 18 weitere Zeugen hören, darunter auch Stephan Ernst und Markus H., und im Sommer dann seinen Abschlussbericht vorstellen.