Nach der zwischenzeitlichen Verhaftung der kurdischstämmigen Alzeyer Stadträtin Dilan Düzgün letzte Woche steigt die Unsicherheit bei Kurden in Deutschland - denn es handelt...
GIESSEN. Der Fall der Alzeyer Stadträtin Dilan Düzgün hat die Unsicherheit unter den in Deutschland lebenden Kurden vergrößert. Aus Angst vor Repressalien türkischer Behörden wahren viele Funkstille in den sozialen Medien oder melden sich gleich ganz ab, einige verzichten sogar aufs Handy. „Seit dem Militärputsch in der Türkei vor rund zwei Jahren hat es sehr viele Festnahmen gegeben“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland (KGD), Mehmet Tanriverdi. Vor allem jüngere Leute gerieten offenbar wegen ihrer Aktivität auf Facebook oder Twitter ins Visier des türkischen Sicherheitsapparates. Aber auch viele Ältere seien betroffen. In der Türkei lägen umfangreiche Listen mit den Namen in Deutschland lebender, angeblicher kurdischer Aktivisten vor. Tanriverdi spricht von einem „knallharten Vorgehen der türkischen Behörden“.
Wie berichtet, war die kurdischstämmige Kommunalpolitikerin Düzgün, die für Die Linke im Alzeyer Stadtrat sowie im Kreistag Alzey-Worms sitzt, am vergangenen Freitag am Ende eines zweiwöchigen Türkei-Urlaubs am Flughafen Dalaman festgenommen worden. Weil sich der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terrorverdächtigen Vereinigung als haltlos erwies, setzte ein Richter Düzgün nach rund 24 Stunden wieder auf freien Fuß.
Tanriverdi hat keinerlei Mühe, sich etliche ähnlich gelagerte Fälle aus der jüngsten Vergangenheit in Erinnerung zu rufen. Gerade eben wurde ein KGD-Mitarbeiter gleich bei der Einreise am Flughafen Istanbul abgefangen. Der Mann wollte weiterreisen in seine kurdische Heimat, um dort der Beerdigung des Vaters beizuwohnen. Türkische Beamte kassierten sein Handy und unterzogen ihn einer zweistündigen, unangenehmen Befragung, bevor sie ihm das Mobiltelefon zurückgaben und er seine Reise fortsetzen durfte. „Ich habe ihm geraten, sich ein neues Handy zu besorgen oder wenigstens die SIM-Karte auszutauschen“, sagt Tanriverdi. „Wer weiß, was die mit dem Gerät angestellt haben?“
Wahlbeobachter wegen Sicherheitsbedenken ausgewiesen
Ende Juni war die kurdische Stadt Van, ganz im Osten der Türkei, das Ziel eines Beiratsmitglieds der KGD. Der frühere Kommunalpolitiker aus Baden-Württemberg sollte bei der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 24. Juni als Wahlbeobachter tätig sein. Doch schon bei der Einreise war am Flughafen Izmir für ihn Endstation: Einige Stunden wurde er dort festgehalten und schließlich wegen angeblicher Sicherheitsbedenken ausgewiesen.
Dann ist da noch der alarmierende Fall des jungen Gießeners Patrick K.. Der Deutsche sitzt seit Mitte März in einem türkischen Gefängnis, weil er – so wird behauptet – versucht haben soll, die syrische Grenze zu überschreiten, um sich kurdischen Separatisten anzuschließen. Als Beweismittel dienen unter anderem Fotos, die auf seinem Smartphone gespeichert gewesen sein sollen. In Wahrheit habe sich Patrick allenfalls „naiv“ verhalten, sagt Tanriverdi. Er sei bloß auf Wanderurlaub gewesen, mit Politik habe er „nichts am Hut“, ebenso wenig wie seine ganze Familie.
"Enthaltsamkeit" bei sozialen Medien
Insgesamt sei die Situation inzwischen so bedrohlich, dass es für kurdische Funktionäre wie ihn überhaupt nicht mehr in Frage komme, in die Türkei zu reisen, sagt Tanriverdi. Er selbst stammt aus Siverek, einer Stadt mit rund 100.000 Einwohnern im Südosten der Türkei, nicht weit von der vom Bürgerkrieg gezeichneten syrischen Metropole Aleppo. Bundespräsident Horst Köhler verlieh dem auch in der Gießener Kommunalpolitik engagierten deutsch-kurdischen Unternehmer 2009 das Bundesverdienstkreuz, weil er sich als „Brückenbauer“ zwischen den Kulturen hervorgetan hatte. Doch nun sind, wie es scheint, auf unbestimmte Zeit für ihn alle Brücken in die Heimat abgebrochen.
Die Stimmung in der kurdischen Community beschreibt Tanriverdi allgemein als bedrückt und eingeschüchtert. Die um sich greifende Enthaltsamkeit in den sozialen Medien und Handy-Abstinenz schütze allerdings nicht zuverlässig davor, auf dem Überwachungsschirm der türkischen Sicherheitsbehörden aufzutauchen. Tanriverdi erinnert an das dichte Netz von Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT und Tausenden Informanten in Deutschland, die den hier lebenden Kurden zweifellos besondere Aufmerksamkeit widmeten."