Was die Ukraine von anderen Kriegsgebieten unterscheidet

Der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert reist in die Ukraine, um medizinisches Material und Spenden zu übergeben. Er erzählt, was dort besonders ist und ihn beeindruckt hat.
Mainz/Kiew/Charkiw. Bedürftige, die sich über ein warmes Essen freuen, Patienten in Krankenhäusern, Luftalarm in jeder Nacht – bei einer Reise durch die Ukraine erlebt der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert den Krieg. Trabert, der auch an der Hochschule Wiesbaden lehrt, besucht in Kiew, Butscha, Irpin und Charkiw Hilfsprojekte, die sein Mainzer Verein „Armut und Gesellschaft” finanziell und materiell unterstützt. Nicht mehr vergessen werde er den Luftalarm, sagt Trabert und erzählt, was die Ukraine von anderen Kriegsgebieten unterscheidet.
Die Sirenen heulen jede Nacht, die Trabert in Kiew und Charkiw verbringt, zum Teil ganz nah. „Es ist immer wieder ein belastendes, ein beängstigendes Gefühl”, erzählt Trabert, der eine knappe Woche im Land unterwegs war und von Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, begleitet worden ist. Von seinem Zimmer in Kiew habe er zwei Abwehrraketen gesehen und beobachten können, wie sie die angreifenden Raketen mit einem lauten Knall treffen, berichtet der Mainzer. Laut BBC seien in der Nacht auf Donnerstag 29 von 30 russischen Raketen von der Luftabwehr zerstört worden, es gab mehrere Verletzte und Tote. In der Unterkunft in Charkiw habe man ausgemacht, erst in den Schutzkeller zu gehen, wenn Schüsse fallen oder Munition einschlägt.
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„Sicher kann man sich nirgends fühlen”, sagt er. Die russischen Soldaten wollen die Menschen verängstigen, was ihnen gelinge. Manche Menschen würden in Kiew nicht mehr zu Hause übernachten, sondern jeden Abend in eine U-Bahn-Station oder Unterführungen flüchten, habe man ihm erzählt.
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Wo verläuft die Front? „Es gibt keine sicheren Bereiche mehr”
Trabert war schon in einigen Kriegsgebieten, in Syrien, im Irak, in Angola, Liberia. Dort habe man gewusst, wo die Front verläuft, wie weit man davon entfernt ist. In der Ukraine sei das anders. „Durch die Raketen- und Drohnenangriffe gibt es gar keine sicheren Bereiche mehr. Das macht etwas mit einem.”
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Viele Menschen werden bei den Kämpfen schwer verletzt. An das Militärkrankenhaus in Charkiw, 22 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, hat Trabert medizinisches Material übergeben, darunter ein durch Spendengelder finanziertes Dermatom. Das Personal im Militärkrankenhaus habe viele durch Brände oder Explosionen schwerverletzte Patienten. Großflächige Hautwunden können mit dem Dermatom behandelt werden. Außerdem hat Trabert 1000 Tourniquets übergeben. Die Aderpress-Kompressionsmanschetten werden zum Stoppen von Blutungen eingesetzt und würden vor allem an der Front gebraucht. Das Personal habe ihn gebeten, für ihre Dialysegeräte dringend notwendige Filter zu besorgen, da die Geräte aus Deutschland stammen würden. Trabert versichert: „Das werden wir tun.”
Immer wieder sieht er auf seiner Reise das Ausmaß des Krieges, macht sich Gedanken um die vielen Toten: Gebäude mit kaputtem Dach, zersprungenen Fenstern, ganz eingestürzte Häuser, dazwischen ein intakter Spielplatz. In Irpin sammeln die Bewohner die von der russischen Armee zerstörte Fahrzeuge auf einem Autofriedhof. In vielen Fahrzeugen stecken Stofftiere – Trabert vermutet, in Gedenken an die Kinder, die darin ums Leben gekommen sind. In Kiew stehen auf einem Platz Tausende Ukraine-Fahnen für all die Getöteten.
„Köche der Ukraine” bereiten Essen für Bedürftige zu
Trabert hat auch die „Köche der Ukraine” getroffen. Die Organisation, gegründet vom Drei-Sternekoch Igor Bragin, bereitet an sechs Tagen pro Woche 200 Essen zu. Das verteilen sie an meist ältere, ärmere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Binnengeflüchtete in der Region um Butscha. Dort ist die Infrastruktur zerstört worden, selbst kochen können viele nicht. Die Köche und ihre Helfer bringen das Essen, egal welche Bedingungen herrschen. Seit beinahe einem Jahr unterstütze der Mainzer Verein die „Köche der Ukraine” mit 10.000 Euro pro Monat. Das sei auch Dank der Leser dieser Zeitung möglich, berichtet Trabert. Am Anfang sei die Solidarität mit und unter den Ukrainern hoch gewesen. Nun bröckele sie etwas, was normal sei, erzählt der Arzt. Die Menschen brauchen weiterhin Hilfe. Auch sein Verein sei auf Spenden angewiesen.
In Kiew ist Trabert auch ein wenig durch die Stadt gelaufen. Denkmäler sind in Sandsäcke eingepackt, um sie gehen Beschädigung zu schützen. An manchen Orten läuft das Leben scheinbar normal weiter, an einem Platz wirkt es geschäftig. In einem Park sitzen Familien, andere gehen spazieren, es gibt einen Stand mit Zuckerwatte und Eis. „Es ist skurril zu wissen, dass Krieg in diesem Land herrscht und man versucht, ganz normal den Tag zu gestalten”, sagt Trabert. Man müsse ein wenig Leichtigkeit im Leben integrieren, sonst würde man den Dauerstress gar nicht aushalten, meint er.
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Besonders betroffen zeigt er sich auch von der Situation der ukrainischen Kinder. Wer Schlimmes erlebt hat, würde oft nicht mehr sprechen, sei introvertiert, melancholisch, habe einen leeren Blick. Die tiefe Verletzung der kindlichen Seele kenne er aus anderen Kriegsgebieten. Zwar schaue man in der Ukraine gerade auf traumatisierte Soldaten, man versuche, ihnen zu helfen. Trabert warnt: „An die Kinder wird zuletzt gedacht.”