Haben die Corona-Maßnahmen unser Immunsystem „schlapp gemacht“? Oder schwächen Covid-Erkrankungen das Immunsystem? Und warum sind vor allem Kinder betroffen?
Wiesbaden/Berlin. Husten, Schnupfen, Halsschmerzen und Fieber sind in dieser Jahreszeit eigentlich nichts Ungewöhnliches. In diesem Jahr aber häufen sich die Meldungen, dass die Situation in Kinderkliniken und vor allem bei Kinderärzten dramatisch ist. Ein Grund dafür ist, dass sich das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) derzeit besonders stark verbreitet. Dazu treten andere schwere Atemwegsinfekte vermehrt auf und zudem hat die Grippewelle bereits Ende Oktober, und damit deutlich früher als in den Jahren vor der Corona-Pandemie, begonnen.
„Die Infektwelle ist durch die mangelnde Auseinandersetzung mit Erregern entstanden, wie sie sonst im Kindesalter üblich ist“, erläutert die Wiesbadener Kinderärztin Soraya Seyyedi, Sprecherin des Landesverbands Hessen des Berufsverbandes der Kinder und Jugendärzte (BVKJ), die Gründe. Ein funktionierendes Immunsystem müsse auch trainieren, um Abwehrkräfte zu bilden. Dies sei durch die Corona-Schutzmaßnahmen ausgefallen.
Andere Experten betonen, dass die Vorstellung falsch sei, man benötige ständigen Kontakte mit Viren, weil ansonsten das Immunsystem herunterfahren würde. „Wir haben keinen Hinweis darauf, dass man regelmäßig krank sein muss, um besonders gesund zu sein“, sagt die Virologin Isabella Eckerle vom Zentrum für Neuartige Viruserkranken an den Universitätsklinken in Genf. Und auch Carsten Watzl, Leiter Bereich Immunologie beim Leibniz-Institut für Arbeitsforschung sagt, man könne das Immunsystem nicht mit einem Muskel vergleichen, der, wenn man ihn lange Zeit nicht braucht, weniger gut funktionieren würde. Er betont: „Das Immunsystem ist während der Corona-Zeit eigentlich nicht geschwächt worden.“
Wir haben keinen Hinweis darauf, dass man regelmäßig krank sein muss, um besonders gesund zu sein.
Wie das Immunsystem funktioniert
Die wichtigste Aufgabe des Immunsystems ist es, zwischen körpereigenen Zellen und „Eindringlingen“ zu unterscheiden. Dazu gehören neben Viren zum Beispiel auch Bakterien, Parasiten und Fremdstoffe, wie zum Beispiel Rußpartikel. Infiziert man sich beispielsweise mit einem Virus, produziert das sogenannte erworbene Immunsystem, passend zum Virus, Antikörper, um den Krankheitserreger zu eliminieren. Zudem wird die Information über den Eindringling in Gedächtniszellen für spätere Zeiten gespeichert. Infiziert man sich erneut mit dem Virus, können die Gedächtniszellen dann schneller Antikörper produzieren.
Zwar lässt der Schutz vor Ansteckung mit der Zeit nach, vor allem wenn die letzte Begegnung mit dem Erreger schon längere Zeit her ist und kaum noch oder keine Antikörper mehr vorhanden sind. Der Schutz vor schweren Erkrankungen beruht aber auf den langlebigen Gedächtniszellen. Erwachsene werden deshalb nicht schwerer krank als vor der Pandemie.
Schwächt Corona das Immunsystem?
Es gibt aber auch Hinweise, dass eine durchgemachte Covid-Infektion zumindest für eine Zeit die allgemeine Immunität schwächen könnte. So deuten internationale Studien darauf hin, dass nach einer Sars-CoV-2-Infektion Veränderungen an Immunzellen auftreten, die die Fähigkeit beeinträchtigen, andere Viren, Bakterien oder Pilze zu bekämpfen. Könnte das die Erklärung dafür sein, weshalb man nach Corona eher anfällig für andere Infektionen zu sein scheint, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kürzlich twitterte? Bei Kindern sei das wohl nicht der Grund, sagt Kinderärztin Seyyedi. Da bei ihnen die Corona-Infektion zumeist mild verlaufen ist, sei die Infektwelle nicht durch Immunsuppression entstanden.
Aber es gibt auch Kinderärzte, die vermuten, dass das Virus eine Rolle spielen könnte – zumal das auch von anderen Viren bekannt ist. So müsse man nach einer Masern-Erkrankung oft noch lange mit Folgeerkrankungen kämpfen und nach einer Influenza seien es häufig bakterielle Erreger wie Staphylokokken, die es dann leichter hätten, erklärt der Stuttgarter Kinder-Infektiologe Friedrich Reichert in einem „NDR“-Beitrag.
Tatsächlich sind quasi zwei Infekt-Jahrgänge ausgefallen, die jetzt nachgeholt werden.
Sorge bereitet den Kinderärzten vor allem, dass die RSV-Welle sehr früh und zeitgleich mit der Grippe grassiert, die sonst erst im Februar, März auftritt. Bereits im vorigen Jahr gab es eine heftige RSV-Welle, die auch sehr viele ältere Kinder schwer betroffen hat, sagt Seyyedi. Damals habe es aber weniger andere akute Infekte gegeben, daher sei das Gesundheitssystem nicht so wie jetzt komplett überlastet gewesen. Normalerweise infizieren sich mehr als 90 Prozent aller Kinder in den ersten beiden Lebensjahren mit dem Respiratorischen-Synzytial-Virus (RSV). Weil dieses Virus aufgrund von Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht zumindest im ersten Corona-Winter nicht zirkuliert ist, blieben viele Kinder davon verschont. „Tatsächlich sind quasi zwei Infekt-Jahrgänge ausgefallen, die jetzt nachgeholt werden“, sagt Seyyedi.
Infektwelle nicht der eigentliche Grund für die dramatische Lage
Und das führt zu besorgniserregenden Engpässen: Kinderkliniken weisen Betroffene wegen Überbelegung ab, Praxen verhängen Aufnahmestopps. Diese Engpässe hat es aber auch schon vor der Pandemie gegeben. Die Infektwelle sei nicht der eigentliche Grund für die dramatische Lage, sagt deshalb auch BVKJ-Bundespressesprecher Jakob Maske: „Das Debakel hat die Politik zu verantworten, die seit Jahren die Pädiatrie finanziell aushungert, uns aber gleichzeitig immer mehr Aufgaben aufbürdet. 80 Prozent der Kliniken mussten in den letzten Jahren die Zahl ihrer Betten reduzieren, sogar im Intensivbereich. In unseren Praxen müssen wir daher zunehmend schwer kranke und chronisch kranke Kinder und Jugendliche mitversorgen.“