Montréal: Französische Lebensart macht Kanadas zweitgrößte Stadt zum Hotspot
Von Simone F. Lucas
Blick auf Downtown Montreal. Unter der Stadt liegt noch eine Stadt: Dort kann man nicht nur shoppen und ins Kino gehen. Wer in einem Haus mit Zugang zur Unterwelt wohnt, kann Wichtiges erledigen, ohne raus zu gehen. Foto: Simone F. Lucas
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Homards verkündet das Schild über dem kleinen Restaurant an der Rue St. Denis. In einem gläsernen Bottich im Schaufenster paddeln stattliche Atlantik-Hummer. Einige Schritte weiter serviert ein Ober in langer, weißer Schürze seinen Gästen Croissants und dampfenden Milchkaffee zur Zeitungslektüre. Und gleich nebenan dringt der Duft exotischer Gewürze aus der Tür einer vietnamesischen Garküche. Ein Bummel durch das Viertel zwischen Rue Roy und Rue Gilford in Montréal ist wie eine kulinarische Weltreise: Griechen und Italiener gibt es hier, Portugiesen, Thailänder und Chinesen. Wer in Montréal wohnt, kann sich die Weltreise sparen. 80 Nationalitäten leben allein am Boulevard Saint Laurent, wo 100 verschiedene Sprachen zu hören sind.
Dass sich, wer in Montréal wohnt, auch den Mantel sparen kann, ist zwar ein Scherz, hat aber einen wahren Kern: die „Ville Souterraine“, kurz „Reso“. Denn im Zentrum der kanadischen Metropole sind Bahn, Einkaufspassagen, Hotels und Wohnblocks zu einer Stadt unter der Stadt vernetzt. Wer günstig wohnt, der braucht seine Nase im Winter nicht der klirrenden Kälte auszusetzen. U-Bahn und Rolltreppen bringen die Menschen vom Büro zum Fitness-Studio, von der Wohnung zur Einkaufspassage oder auch zum Eislaufplatz.
Wenn draußen die Schneestürme toben, trifft man in Montréals Unterwelt auf lässige Menschen in T-Shirts. Die klimatisierte Reso mit ihren Tunneln, durch die Metro-Züge auf Gummirädern gleiten, ihren Plätzen und Passagen ist Teil des urbanen Lebens. Dafür wurden 1987 sogar die Fundamente der 1859 erbauten Christ Church Cathedral ausgeschlachtet, während die Kirche die Bauarbeiten auf Stahlträgern überstand. Jetzt flanieren die Montréaler unter der Kathedrale zwischen dicken Säulen.
INFORMATIONEN
Anreise: Von Deutschland fliegen zahlreiche Airlines nach Montréal, Hin- und Rückflug gibt es schon ab ca. 450 Euro.
Tipp: Im Winter und im Frühjahr sind die Cabanes a Sucre, ehemalige Hütten, in denen Ahornsirup verarbeitet wurde, eine Attraktion. Die traditionellen Hütten befinden sich im näheren Umkreis, etwa in den Laurentides. Hier kommt Herzhaftes auf den Tisch, mit und ohne Ahornsirup.
Im Internet: www.quebecoriginal.com, www.375mtl.com, www.tourisme-montreal.org
Auf mittlerweile rund 32 Kilometer ist die unterirdische Stadt angewachsen. Zehn Meter unter der Erde kann man nicht nur shoppen, sondern auch ins Kino gehen oder einen Café au lait schlürfen. Hunderte Restaurants und Cafés, 40 Kinos, Theater und Konzertsäle sowie 2 000 Läden und neun große Hotels bieten reichlich Abwechslung.
Geboren wurde die Idee der unterirdischen Stadt Anfang der 60er-Jahre, als der erste Wolkenkratzer der Innenstadt geplant wurde. Gleich neben dem Neubauprojekt lag eine tiefe Schneise, in der früher die Eisenbahnschienen verliefen. Hier entstand ein großes Einkaufszentrum mit Kinos und Cafés. Die „Place Ville Marie“ wurde zur Keimzelle der „Ville Souterraine“. Und weil immer mehr Montréaler vor der Winterkälte in die Unterwelt flüchteten, wurden immer neue Passagen und Untergrundzentren angelegt, sobald ein Neubau entstand. Beim Bau der U-Bahn wurden die Ein- und Ausgänge gleich in Wohnhäuser und Bürogebäude integriert und direkt an die Shops im Souterrain angeschlossen. Schon bald führten auch Tunnel zu den umliegenden Gebäuden. Heute ist etwa ein Drittel der Innenstadt unterirdisch vernetzt. Und die Reso hat sich gemausert. Sie schmückt sich mit Brunnen und Skulpturen, sogar mit echtem Grün. Die Metro-Stationen wurden von Künstlern gestaltet – mit Hinterglasmalerei, Neonart und Großplastiken. Die Universität und das Kongresszentrum haben ebenso Zugang zur Unterwelt wie das spektakuläre neue Museum für Moderne Kunst. Unter dem 51-stöckigen Büroturm an der Adresse 1000 de La Gauchetière gibt es gar einen Eislaufplatz – der oberirdische Winter lässt grüßen.
Heute scheint draußen die Sonne. Da kann man es auch auf der Erdoberfläche aushalten. Zum Beispiel in Little Italy, auf dem Markt Jean Talon, wo sich die Verkaufstische unter dem regionalen Gemüseangebot biegen. Allein 450 Käsesorten sind in der Fromagerie im Angebot, in der Bäckerei stapeln sich die Brote, und im Marché de Saveurs füllen die Biersorten von Quebecs 390 Mikrobrauereien die Regale. Auch hier ist Montréal multikulti.
Französischen Charme findet man dagegen im Quartier um die Avenue Laurier, die Rue de Brebeuf, den Boulevard Rosemont oder am Plateau Mont-Royal. Da, wo die pastellfarbenen Häuser noch Außentreppen haben wie zu der Zeit, als hier die ersten Familien gegründet wurden. Wo noch im letzten Jahrhundert weniger betuchte Familien, Studenten und Künstler billigen Wohnraum fanden, hat sich heute ein Szeneviertel entwickelt, vergleichbar mit Berlins Prenzlauer Berg. Vor allem gut situierte und ökologisch interessierte Montréaler mischen sich unter die alt eingesessenen Künstler. Die Gegend mit oft winzigen Restaurants, kleinen Läden und einem Kulturzentrum, das offen ist für Amateure, hat einen ganz besonderen Reiz. Natürlich gibt es hier auch eine Metrostation. Mit der Untergrundbahn ist man im Nu in Downtown, wo Montréal genauso wirkt wie amerikanische Städte: modern und ein bisschen steril – mit Wolkenkratzern aus Glas und Stahl.
Hier lebt Bard – blond, blauäugig, Typ großer Junge. Er mag es trendy und liebt das Quartier des Spectacles, wo Montréal an seiner kulturellen Zukunft baut und wo die stylischen Restaurants und Bars auch an Wochentagen rappelvoll sind. Während deutsche Städte ihr kulturelles Angebot abbauen, will Montréal bis 2025 mit Milliarden-Investitionen einen komplett neuen Stadtteil hinstellen, der mit seinen Festival-Bühnen und Musikhallen zum Unterhaltungs-Mekka Quebecs werden soll. Zu dem Thema hat Montréal schon früher einiges beigetragen. Die Stadt hat nicht nur so unterschiedliche Stars wie Leonard Cohen und Celine Dion hervorgebracht, sie war auch Schauplatz des zweiten Bed-Ins von John Lennon und Yoko Ono, die sich 1969 in der Suite 1738-40-42 des majestätischen Queen Elizabeth Hotels (heute Fairmont) einquartierten und da zusammen mit Freunden die Hymne der Friedensbewegten aufnahmen: Give Peace a Chance. Das war sechs Jahre bevor Bard geboren wurde.
Das moderne Montréal schreibt seine Botschaften in einer Endlosschleife per Video-Projektion auf die Fassaden leerstehender Häuser, es veranstaltet das größte Jazz-Festival der Welt und das World Film Festival und es ist Heimat des Cirque du Soleil. Längst ist der von Straßenkünstlern gegründete „Zirkus der Sonne“ ein milliardenschweres Unternehmen. Und längst ist aus dem lange vernachlässigten hässlichen Entlein Montréal ein stolzer Schwan geworden, die zweitgrößte Stadt Kanadas. Eine Stadt mit französischer Lebensart und britischem Geschäftssinn, ein Melting-Pot der unterschiedlichsten Nationalitäten und Kulturen. Im nächsten Jahr wird Montréal 375 Jahre alt. Und Bard ist überzeugt davon, dass das Jubiläum spektakulär gefeiert wird – unter und über der Erde.
Winterfest sind sie ohnehin, die Montréaler: Wenn das Hafenbecken zugefroren ist und die kleinen Seen unter einer Eisdecke liegen, schnallen sich Jung und Alt ganz einfach die Schlittschuhe an und kurven dick eingemummt durch die weiße Winterwelt. Wem es draußen zu kalt wird, der kann sich ja immer noch unter die Erde flüchten und im künstlichen Licht der Reso aufs Eis gehen.