Schäfer Matthias Schüler ist Herr über 770 Heidschnucken. Sieben Stunden täglich ist der 60-Jährige von Mai bis Oktober mit den Tieren unterwegs. Foto: Bernd Funke
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Die Heide steht Kopf. Zumindest in Bispingen. Das Örtchen punktet nicht nur mit Naturschönheiten wie etwa dem Wilseder Berg und dem Totengrund, sondern hat für sich auch die Anziehungskraft von Attraktionen entdeckt, die von pfiffigen Freizeitgestaltern kreiert wurden. Dicht an dicht stehen vor den Toren der Gemeinde nicht nur Deutschlands größte Indoor-Skihalle und das Kartcenter des Ralf Schumacher, sondern auch „das verrückte Haus“. Ein komplett eingerichtetes Einfamilienhaus, das um 180 Grad gedreht ist und kopfstehend in zehn Räumen für ein Erlebnis der besonderen Art sorgt. Der zusätzliche Kick: Das Haus ist um über sechs Grad längs- und quergeneigt. Eine ganz besondere Herausforderung für den Gleichgewichtssinn. Erst wenige Wochen jung ist eine Modelleisenbahn, die über Kopf fährt. Laut Betreiber einmalig auf der Welt.
Wenige Autominuten weiter, dort, wo das Naturschutzgebiet beginnt, stehen die Kutschen. Bereit zu Rundfahrten durch die von Anfang August bis Anfang September in voller lila Blüte stehende Landschaft. Wacholder, Kiefern und Birken sind die grün-weißen Begleiter der Heide. Aber ein romantisches Heide-Erleben wie zu Zeiten des berühmten Hermann Löns, dessen Glanz inzwischen einiges eingebüßt hat, ist seltener geworden. Und ob Löns tatsächlich im Tietlinger Wacholderhain bei Walsrode von der Reichswehr unter einem Findling gemeinsam mit einer von Adolf Hitler unterzeichneten Urkunde beigesetzt wurde, ist mehr als fraglich. Ein Sarg mit skelettiertem Inhalt zumindest liegt im Heidesand – und lässt Walsrode stolz das Attribut „Löns-Stadt“ tragen. Der Zweifel ändert indes nicht das Geringste an der einzigartigen Landschaft, die das Ausspannen und Luftholen abseits der die Heide pflasternden „Attraktionen“ leicht macht. Auch ohne den gefühlsduseligen Hermann Löns, bei dem der Bückeburger Mediziner Kantorowisz in einem gerichtlichen Attest „krankhaften Wandertrieb“ festgestellt haben will. Durchaus schwerer wiegt heute die nationalistische Einstellung des „Heidedichters“, die nicht frei von Antisemitismus war.
All das tangiert nicht die Besucherströme, von denen beispielsweise der Heidepark Soltau überschwemmt wird, der immerhin 900 Arbeitsplätze in der mit Verdienstmöglichkeiten nicht gerade reich gesegneten Region bietet. Wer die rund 450 Autobahn-Kilometer aus dem Rhein-Main-Gebiet hinter sich gelassen hat, nimmt in der Regel klaglos Wartezeiten auch von einer Stunde vor den Fahrgeschäften in Kauf, um für Eintrittspreise zwischen 32 und 46 Euro rund 40 Attraktionen wie „Scream“, den höchsten Gyro-Drop-Tower der Welt oder Deutschlands einzigen Dive Coaster, die „Krake“, nutzen zu können. Man schwelgt in Superlativen.
Schäfer Matthias Schüler ist Herr über 770 Heidschnucken. Sieben Stunden täglich ist der 60-Jährige von Mai bis Oktober mit den Tieren unterwegs. Foto: Bernd Funke Foto: Bernd Funke
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Da die britische Merlin Group, zu der neben dem Heidepark weltweit auch Unternehmen wie Legoland, Madame Tussauds oder Sea-Life gehören, sich der Anziehungskraft des gewaltigen Rummelplatzes gerade auf Kinder bewusst ist, wird in dieses Besuchersegment kräftig investiert. Ganz neu in diesem Jahr: Den Jüngsten wurde eine „Dracheninsel“ kreiert.
Wem ein solch geballtes Freizeitvergnügen nicht reicht, der folgt der Werbung „Erlebe den größten Vogelpark der Welt“. In Walsrode sind 36 Hektar von mehr als 4 000 gefiederten Gästen bevölkert. 675 Vogelarten sind vertreten. Und eine rund 3 000 Quadratmeter große Flughalle gaukelt zumindest dem Besucher die Freiheit der Exoten vor, die sie annähernd wohl nur bei zweimal täglich präsentierten Flugshows haben. Und wem selbst dies noch nicht abenteuerlich genug ist, der geht in Hodenhagen im eigenen Auto oder per Bus auf Safari, kann sogar mitten im Serengeti-Park nächtigen – umgeben von 1 500 Wildtieren von A wie Affen bis Z wie Zwergzebu. Selbstredend wird auch hier der Spaßfaktor durch Hochseilgarten, Shows und Jetboat-Fahrt auf dem (natürlich künstlichen) Black Mamba River berücksichtigt.
INFORMATIONEN
Anreise: Mit dem Auto sind es rund 450 Kilometer vom Rhein-Main-Gebiet über die A 5 und A 7 bis in die Lüneburger Heide.
Heideblüte: Informationen zur Heideblüte und zu den Shuttle-Busverbindungen gibt es auf der Seite des Naturparks Lüneburger Heide, www.naturpark-lueneburger-heide.de.
Attraktionen: Eine Übersicht über die Attraktionen in der Lüneburger Heide gibt es auf www.lueneburger-heide-attraktionen.de.
Soltau lockt nicht allein mit Therme, Spielmuseum oder der neuen Attraktion „Felto“, die sich auf 1 500 Quadratmetern des Themas Filz annimmt. Längst schon kein Geheimtipp mehr ist der Käseladen, den Horst Dieter Beddies seit 1968 am Rand der kleinen Fußgängerzone betreibt. Für seinen „Fromage au lait cru“ stehen Soltauer und Gäste gerne Schlange. Exotisch mutet auf den ersten Blick das Angebot des Verkehrsvereins an, sonntags mit einem Ameisenbären zum Naturschutzpark Wilseder Berg zu gelangen. Die Auflösung entlockt Lächeln: Der „Ameisenbär“ ist ein historischer Triebwagen der Bauart Wismar, der sich aus dem Jahr 1937 hinüber gerettet hat. Wird der Tourist hier noch mit 10 (Kinder 5) Euro zur Kasse gebeten, hat er völlig kostenfrei die zwischen dem 15. Juli und dem 15. Oktober offerierte Möglichkeit, den Naturpark Lüneburger Heide mit dem „Heide-Shuttle“, einer Ringbuslinie mit Fahrradanhänger zu erkunden.
Eine der Stationen: Neuenkirchen. Hier hat sich am Rande des knapp 6 000 Seelen zählenden Örtchens eine Ferienhaussiedlung entwickelt, in der auch der Gast mit Hund willkommen ist. Petra Dammann etwa hat mit ihrem Häuschen „Peterle“ gerade erst nach dem Nurdach-Haus „Eichhörnchen“ und dem idyllischen Blockbohlenhaus „Dachsbau“ ihr drittes Domizil dieser Art fertiggestellt. Und da eine der größten Heidschnuckenherden der Lüneburger Heide in Neuenkirchen zu Hause ist, trägt die amtlich durch die Bezeichnung „Erholungsort“ geadelte Gemeinde den Zusatz „Schnuckendorf“. Der von einem gemeinnützigen Verein betriebene Schäferhof vermittelt mit reetgedeckten Ställen, Heide-Informationshaus, Wagenremisen und Stallscheune Romantik pur. Schäfer Matthias Schüler ist seit 1972 Herr über 770 Heidschnucken. Sieben Stunden täglich ist der 60-Jährige von Mai bis Oktober unterwegs. Begleitet von seinen Hütehunden, den „Harzer Füchsen“ Lore und Cora sowie 20 Ziegen, die dafür sorgen, dass Birken und Kiefern auf den Weideflächen nicht überhand nehmen. Täglich wird der Eintrieb der Herde, die sich auf einen Pfiff des Schäfers in Bewegung Richtung Stall setzt, zum großen Touristenspektakel. Das Bio-Schnuckenfleisch vermarktet Schülers Frau Helma direkt im Schäferhof.
Wer die Heide verlässt, ohne das Nationalgericht „Knipp“ probiert zu haben, eine Art Grützwurst, die mit Bratkartoffeln und Gurke serviert wird, dem fehlt etwas am kompletten Angebot der Heidjer, wie sich die Bewohner der Heide nennen. Übrigens: Nachgerade ein Muss neben dieser kulinarischen Köstlichkeit ist am dritten Sonntag im September im historischen Schröers Hof in Neuenkirchen das traditionelle Kartoffelfest rund um das „Gold der Heide“, für das selbst weiteste Anfahrtswege in Kauf genommen werden. „Nu lat die dat smecken“ – der Wunsch der Heidjer gilt nicht allein dem Essen. Auch ein Urlaub zwischen Romantik, Ruhe und Remmidemmi in der Lüneburger Heide ist besonders gut „verdaulich“.