Ein bis 2020 von verschiedenen Firmen verkauftes Medikament gegen Sodbrennen steht unter Verdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen. Viele Schadenersatzklagen sind in den USA anhängig.
INGELHEIM. Es war ein sehr beliebtes Medikament gegen Sodbrennen und Magengeschwüre – und in den 1980er Jahren zeitweise sogar das umsatzstärkste Medikament der Welt: Zantac oder Zantic, wie es in Deutschland hieß, mit dem Wirkstoff Ranitidin. Zig Millionen Menschen nahmen es ein. Und weil es so gut lief, wollten viele daran verdienen. Entwickelt vom damaligen britischen Pharmakonzern Glaxo Ende der 1970er, wechselten nach dem Ablauf des Patentschutzes Vertriebsrechte und Namen vergleichsweise häufig. Insbesondere als Zantac zu den rezeptfreien Medikamenten wechselte und entsprechend Generika auf den Markt kamen.
Welche Firmen haben das Medikament verkauft? Zu den Pharmaunternehmen, die Zantac vertrieben, gehört zum Beispiel neben Pfizer und Johnson & Johnson auch Boehringer Ingelheim, das 2006 die weltweiten Markenrechte erwarb. Als das Ingelheimer Familienunternehmen zehn Jahre später den Bereich Selbstmedikation an Sanofi verkaufte und dafür von den Franzosen deren Tiergesundheit erhielt, wechselten auch die Vertriebsrechte für Zantac zu Sanofi. Doch für Boehringer ist das Kapitel Zantac nicht erledigt. Denn in den USA drohen milliardenschwere Schadenersatzklagen. Den möglichen finanziellen Aufwand für die betroffenen Firmen schätzen Analysten von Morgan Stanley auf bis zu 40 Milliarden US-Dollar.
Warum wurde das Medikament vom Markt genommen? Als 2019 einem Bericht der Financial Times zufolge ein kleines Labor in den USA nach Tests vermeldete, dass Präparat könne Krebs verursachen, gingen Schockwellen durch die Branche. Das Labor stellte vergleichsweise hohe Konzentrationen von Nitrosodimethylaminen (NDMA) fest. Laut Gesundheitsbehörden sind NDMA in sehr geringen Konzentrationen auch in den meisten Lebensmitteln und in Wasser enthalten. Man geht daher davon aus, dass von einem geringen NDMA-Gehalt kein erhöhtes Krebsrisiko ausgeht. Eine anhaltend hohe Konzentration könne jedoch das Krebsrisiko steigern, zitiert die Financial Times die US-Gesundheitsbehörde FDA. Die FDA bezeichnete dem Bericht zufolge die Testmethode des Labors zwar als „unangemessen“, kam aber laut Pharmazeutischer Zeitung letztlich zu dem Schluss, dass die NDMA-Konzentration in einigen Präparaten bei Lagerung über Raumtemperatur mit der Zeit steige, was dazu führen könne, dass Verbraucher „unakzeptablen Mengen“ dieser Verunreinigung ausgesetzt seien.
Wie viele Schadenersatzklagen sind bereits eingegangen? Folge: Im April 2020 rief in den USA die FDA alle Ranitidin-Arzneimittel vom Markt zurück, empfahl die europäische Arzneimittelbehörde EMA das Ruhen aller Zulassungen ranitidinhaltiger Arzneimittel in der EU. Die betreffenden Firmen, darunter auch Boehringer (siehe Infobox), wehren sich vehement gegen den Vorwurf des erhöhten Krebsrisikos.
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Bereits kurz nach dem Rückruf gab es in den USA die ersten Schadenersatzklagen wegen Personenschäden; mittlerweile sind es Medienberichten zufolge allein gegen Pfizer und die britische GlaxoSmithKline (GSK), in der Glaxo aufging, mehr als 3000. Und es könnten, so heißt es, wegen der hohen Verordnungszahlen noch wesentlich mehr werden. Auch gegen Boehringer und andere Firmen, die Zantac vertrieben hatten, seien bereits Klagen eingereicht worden. Zudem seien weitere 70.000 Ansprüche von Anwendern des Medikamentes in Rechtsstreitigkeiten registriert. Nun sind horrende Schadenersatzklagen in den USA aufgrund der besonderen Rechtslage nicht ungewöhnlich, aber welche Sprengkraft im Fall Zantac steckt, zeigte Mitte August die Reaktion der Börse, nachdem Analysten auf die Prozessrisiken hingewiesen hatten: Sowohl GSK-Aktien als auch Sanofi-Papiere büßten zeitweise rund 20 Prozent an Wert ein.
Mit welchen Risiken muss Boehringer rechnen? Wie sich die Zantac-Risiken auf die Firmen verteilen, ist unklar. Aber für Boehringer könnte es schmerzhaft werden. GSK sei hinsichtlich der Klagen wohl das exponierteste Unternehmen, da es das Präparat entwickelt und es zu einem Blockbuster-Medikament (Umsatz mehr als eine Milliarde US-Dollar) gemacht habe, zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg Analysten der britischen Großbank Barclays. Ihre Kollegen von Morgan Stanley schätzen, dass allein GSK mit einer Produkthaftung von bis zu 27 Milliarden US-Dollar konfrontiert sein könnte.
Für die 24 Jahre, in denen Zantac rezeptfrei zu haben war, verorten die Barclays-Analysten die größten Risiken bei Boehringer Ingelheim. Das Familienunternehmen trage wahrscheinlich rund die Hälfte der Risiken, Sanofi etwa 20 Prozent, heißt es.